Meine Mutter, die Gräfin
illegal für die Weltrevolution arbeiten – oder im weitesten Sinn zumindest gegen den Faschismus. Sie tat
das unter einem Decknamen: Sie wurde Rudi genannt. Vielleicht war der Name mit einem gewissen Augenzwinkern ausgesucht worden, bestand ihre Aufgabe doch darin, zu stenografieren und Artikel und andere Materialien zu übersetzen – und zwar für die RUNA ( Rundschau Nachrichten Agentur ), eine Nachrichtenagentur, die die Berliner Telegrafen-Agentur Inprekorr ersetzte und die Zeitschrift Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung mit Material versah. Wobei die Rundschau ihrerseits die Inprekorr ersetzte, für die Kurella verantwortlich war und die jetzt über die Grenze nach Nazi-Deutschland geschmuggelt wurde – unter anderem von ihm selbst. Ein Abenteuer.
Was Rudi betraf, so musste sie nur zur RUNA schlendern, die in der Gerbergasse 9 lag, und durch die Tür, auf der »Übersetzungsbüro RAPID « stand, schlüpfen, auch wenn das Übersetzungsbüro weder ein Telefon noch einen Briefkasten hatte.
Jeden Tag arbeiteten dort vier Personen daran, Nachrichten zu sammeln, zu redigieren, zu übersetzen und auszudrucken (hauptsächlich Material der Komintern und Nachrichten von anderen internationalen kommunistischen Zeitungen und Zeitschriften) – so etwas wie tägliche Bulletins, die unmittelbar verwertbar sein sollten, d.h. so, wie sie waren, gedruckt werden konnten.
Die Bulletins wurden vervielfältigt (Kopiergerät? Mit lila Kopierpapier?) und einmal oder mehrmals pro Tag von Jenny Humbert-Droz (Ehefrau des Leiters der kleinen Schweizer Kommunistenpartei) eingesammelt und in eine Tasche gesteckt, mit der sie in irgendein Café ging, wo sie jemanden traf, der mit einer ebensolchen Tasche ankam, die dann diskret ausgetauscht wurde. Vermutlich mit Zustimmung der Schweizer Polizei. »Schade, dass ich nichts von meiner Arbeit erzählen darf«, schrieb Rudi/Charlotte nach Hause, »aber das würde zu weit führen.«
Später, in den von Nervosität bestimmten Monaten der Beschäftigungslosigkeit in Paris, sehnte sie sich manchmal in diese Zeit zurück – nicht nur, weil sie beide, sie und Heini, in Zürich zusammenlebten, sondern weil sie etwas machte und sich nützlich fühlen konnte. Es war, als würde man noch zur Schule gehen, man tat, was von einem verlangt wurde, wusste, wie die Welt gemäß der Komintern aussah, und widmete sich seiner Aufgabe, die Botenrolle weiterzuspielen.
Aber im November 1933, während sie weiter dort arbeitet und die Emigration schon neun Monate währt und keine Veränderung in Sicht ist, fängt sie an, den Kopf hängen zu lassen. Sie liest Spenglers Untergang , um einschlafen zu können – ja, er interessiere sie selbstverständlich, auch wenn es Widersprüche darin gebe, auf die sie jedoch nicht eingeht; Heini sehe so schlecht und elend aus, dass sie ernsthaft besorgt sei, er überanstrenge sich immer so leicht, sei so nervös, esse nicht genügend, schlafe miserabel – vielleicht nicht anders als in Berlin, aber hier sei doch nichts, über das man sich Sorgen machen müsse! Hier sei doch nichts, über das man sich aufregen müsse – er müsste ausgeruhter sein –, schreibt sie, was darauf hindeutet, dass Heini sie aus Fürsorge und Sicherheitsgründen völlig aus dem politisch gefährlichen Leben, das er führt, heraushält. Oder? Und er ist oft auf Reisen, in der Schweiz, wo er sich zwischen den Kantonen bewegt, um keine Ausweisung zu riskieren (man durfte sich nur zwei Monate legal im Land aufhalten), und unterwegs nach Nazideutschland, um die Rundschau unters Volk zu bringen und um – Grete zufolge – zu versuchen, Scheringer dazu zu bewegen, in die Sowjetunion zu emigrieren. Was allerdings nicht glückte, denn auch wenn Scheringer Kommunist geworden war, so war er doch vor allem Nationalist.
Sie selbst betrachtet sich nur als faul. Es dauere furchtbar lange, bevor sie sich dazu durchringen könne, irgendet
was zu tun – Briefe zu schreiben, rauszugehen oder sich zu irgendwas anderem aufzuraffen. Stattdessen denkt sie – an früher. Denkt an Radautz, an die Verwandtschaft – »wisst Ihr eigentlich etwas über die verschiedenen Omas und Opas, die Urgroßeltern – haben wir einen Familienstammbaum? Haben wir so was? Könnt Ihr mir den schicken? Haben wir mütterlicherseits wirklich keine jüdische Großmutter in unserer Familie?« Und dass Weihnachten vor der Tür stand, ließ das Heimweh und die Trübsal nicht weniger werden. Es wurde ein Weihnachten ohne
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