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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Mal getroffen. Emilie kam aus Leipzig (auf Wunsch ihrer Tochter mit 50 Zigaretten der Marke Attikah im Gepäck) und Charlotte aus Prag, und so trafen sie sich um 11.44 Uhr in Bodenbach (heute Děčín) in der Tschechoslowakei, direkt an der deutschen Grenze, nachdem der Zug aus Leipzig eingefahren war. Leider konnten sie nur bis ein Uhr nachts zusammen sein, weil Charlotte zurück nach Prag fahren musste.
    Einen halben Tag haben sie für sich, Emilie und ihre Tochter. In einem kleinen Kaff an der deutschen Grenze, schätze ich. Ich sehe sie dort stehen und auf ihre Mutter warten – endlich werden sie sich sehen! Und da kommt der Zug, und da steigt sie aus, doch – ach, wie alt und grau, nein, weißhaarig sie geworden ist, ihre kleine Mutsch ! Jetzt nur nicht weinen, nur ja nicht weinen! Und sie setzten sich in ein Café oder ein Restaurant, und hoffentlich hat es nicht geregnet, hoffentlich hatten sie einen schönen, angenehm warmen Tag zusammen, hoffentlich hatte Emilie nicht ihre Magenschmerzen und hoffentlich hatte sie die Nacht zuvor geschlafen (aber wie soll das möglich gewesen sein, wo der Zug doch schon um 8 Uhr fuhr?) und, bitte sehr, hier sind die Zigaretten, und hier, ja hier neue Aufnahmen von Papa, von Leni –

    Oh, was ist sie süß! Aber wie geht es Leni, maman? Ist sie in jemanden verliebt? Warum heiratet sie nicht? Und wie geht es Alexander? Wann hast du ihn zuletzt gesehen? Und Florence? Hat Papa meine Sachen aus Berlin geholt?
    Und Emilie erzählt: vom Vater, der mit seinem Einblattkatalog hausieren geht, von der Geldarmut, von diesem Dunogier, der versucht hat, sie hinauszuwerfen und Miete – 20 Mark! – von ihnen zu kassieren – aber du weißt ja, 20 Mark ist für uns, die nichts haben, ein Haufen Geld – und, und, und.

    Nein, ich weiß nicht, wovon Emilie erzählt, sind ihre Briefe doch allesamt verschwunden; vermutlich blieben sie zurück oder wurden in Moskau verbrannt. Aber sie hatte an diesem Tag bestimmt Kuchen dabei, vielleicht auch eine schön bestickte rumänische Bluse oder ein Tischtuch für das neue Leben, das neue Zuhause in der neuen Welt, in Moskau.
    Dann müssen sie sich verabschieden. Sie winken. Ich hoffe, dass Charlotte gewartet hat, bis Emilie den Zug bestiegen hatte und zurück nach Nazideutschland fuhr, zurück nach Leipzig, wo Hungersnot herrschte – von der mir Leni Jahrzehnte später, auf meinem Bett in Stockholm liegend, erzählt hat und die Emilie ihrer ältesten Tochter wohl verschwiegen haben wird. Tout passe, ma chérie!
    Da steht sie nun und sieht den Zug in der Dämmerung, oder in der Nacht, verschwinden. Und denkt insgeheim, nächstes Mal, nächstes Mal, Mutsch , bin ich nicht mehr allein – dann werde ich meinen kleinen Jungen dabeihaben, einen kleinen neuen Otto, ach, warte nur maman , du wirst schon sehen! Diesmal, ja, diesmal wird es endlich klappen – und er wird in der Heimat der Proletarier, im Mekka der Sozialisten, in Moskau geboren werden!

    Passbild der Genossin Stenbock.

Kapitel 7
    Genossin Stenbock
    Moskau 1934-1937
    Und jetzt stehen die Fragezeichen Schlange, schwarze Zeichen – eine Armee aus Fragen, die den Kopf hängen lassen. Man nehme nur die 97 Punkte, mit denen die Kaderakte 6433 über Charlotte Stenbock-Fermor beginnt, die am 19. September 1937 in Moskau angelegt wurde. Jene Personalakte, die mein Bruder Sven erhielt, als er 1997 Botschafter in Moskau war und die Archive zugänglich gemacht worden waren. Akte 6433. In der irgendwer (wahrscheinlich Kurt Schwotzer, siehe Personenverzeichnis) ihr Leben punktuell aufgelistet hat. Was soll das heißen? Worauf beziehen sich die Zahlen? Ich verstehe gar nichts, bekomme aber wieder einmal Hilfe vom Autor und Kommunismusforscher Reinhard Müller.
    »Das sind Chiffren«, erwidert er sinngemäß auf meine Frage. »Moskau schickt eine Liste an die Genossen in Paris, um Fragen über Charlotte zu stellen. Uns liegt das eine Papier vor, was uns fehlt, sind die Briefe, die die Antworten enthalten. So könnte das ungefähr ausgesehen haben: Wir möchten wissen, ob 1 in 4 war und 10, 14 und 12 usw. getroffen hat. Das war eine übliche Verfahrensweise, mit der die Komintern bzw. die KPD zwischen Moskau und Paris chiffrierte Briefe hin- und herschickte.«
    O.k., ich glaube, jetzt bin ich im Bilde. Und so lauten die ersten 13 Punkte:
      1 – Charlotte Stenbock-Fermor
      2 – sich bei Euch aufhält
      3 – England
      4 – Radautz
      5 – Weimar
      6

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