Meine Mutter, die Gräfin
Schriftstellerkongress besuchten, auf dem auch das schwedische Autorenpaar Moa und Harry Martinson war und auf dem Moa entzückt dem Wodka zusprach und die Sowjetunion, den sozialistischen Realismus und die Vorstellung vom Autor als dem »Ingenieur der Seele« pries.
Bestimmt geht meine Mutter auch in den Deutschen Klub, besucht die deutschsprachigen Theater in Moskau und trifft alte Freunde wieder – seht nur da, da ist ja Carola Neher, die gerade aus Prag gekommen ist, und da ist der Regisseur Erwin Piscator und da, ja da der Schauspieler Gustav von Wangenheim … Ein Mini-Berlin mitten in Moskau. Kurella wiederum wird die ganze Komintern-Führungsriege gekannt haben: Béla Kun, Georgi Dimitrow – der zweifelsohne privilegierten Kreisen zuzurechnen war, jenen, die im Hotel Lux, Dom Wostoka, Nowaja-Moskowskaja, Savoy, Sojusnaja und Oktjabrskaja residierten.
Als sie Ende September 1934 ein Formular ausfüllt, um von der KPD ihren Parteiausweis zu erhalten, der ihr wiederum den Eintritt in die KPdSU ( B ), die Kommunistische Partei
der Sowjetunion (Bolschewiki), ermöglicht, gibt sie Antwort auf die ihr gestellte Frage, wer ihre Bekannten in Russland seien und wer weitere Angaben über sie machen könne. Namen – sie waren so etwas wie eine harte Währung. Sie gibt die Steins und Alpári an, auch wenn sie immer noch in Zürich sind und in der Redaktion der Rundschau arbeiten. Und sie trägt Kurt (alias Heinrich) Süßkind ein, der sich seit Ende 1933 in Moskau aufhielt – denn wie, ja wie hätte sie wissen können, dass dieser Name, wie ich später noch erzählen werde, ihr Todesurteil hätte sein können? Und schließlich gibt sie die einzige Person an, die sie in Moskau wirklich kennt: Albert Schief – mit anderen Worten: Heini.
Die Akte 6433, die mit der rätselhaften Chiffrenliste anfängt, enthält nebst dem Formular, das sie bei ihrer Ankunft ausfüllt, und ihrer recht ausführlichen Autobiografie noch zwei weitere Dokumente aus dem Herbst 1934, die über ihr sowjetischen Leben Auskunft geben. Das erste hat sie selbst mit sicherer, wenngleich unordentlicher Handschrift verfasst – ohne das übliche »Werte Genossen« oder die Grußformel »Mit kommunistischem Gruß«, aber da war sie ja auch erst gut einen Monat da. Nein, freimütig schreibt sie an die deutschen Genossen der KP beim EKKI , also an diejenigen, die sie im Auge behalten werden, die ihr Leben in ihren Händen halten, auch wenn sie jetzt noch nichts davon weiß. Munter schreibt sie also, dass Genossin Erna (Erna Holm, die Heini im Frühjahr 1937 verraten wird) ihr empfohlen hätte, sich mit folgenden Fragen an sie zu wenden: An welchen politischen Schulungskursen könne sie teilnehmen? Gäbe es eine Möglichkeit, dass sie sich an der Westuniversität ( KUNMZ – Abkürzung für Kommunistische Universität der nationalen Minderheiten des Westens) einschreiben lassen könne? »Außerdem« – schwatzt sie beinahe drauflos, und jetzt begreife ich, dass sie immer noch glaubt, nach Utopia gekommen zu sein, noch ist die Atmosphäre nicht von Angst und Schrecken
vergiftet –, »außerdem«, schreibt sie also und offenbart mir ihr unschuldiges, abenteuerlustiges Mädchen-Ich, »möchte ich Mitglied bei einer Sportorganisation werden und schießen und Auto fahren lernen. Da ich zum ersten Mal in meinem Leben die Gelegenheit habe, mich fortzubilden, möchte ich die nächste Zeit hauptsächlich zum Lernen nutzen. Und weil ich nur sehr wenig Russisch kann und mein Mann, Genosse H. Kurella, abkommandiert wurde, möchte ich Euch um Hilfe bitten, um an Schulungen teilnehmen zu können.«
So, so, Genosse Kurella ist also abkommandiert worden. Schon wieder. Konnten sie sich überhaupt noch sehen? Immer diese Arbeit! Die heilige kommunistische Pflicht. Aber wartet nur! Sie wird sich politisch erziehen lassen, sie wird lernen, wie man schießt und Auto fährt, und eine richtige Kommunistin werden! Ein Homo sovieticus. Ein neuer Mensch. Ihm würdig.
Und ja, sie erhält tags darauf, am 29. September, eine kleine, kurze Antwort vom deutschen Vertreter beim EKKI Heckert, der die »werte Genossin« bittet, Kontakt mit der Leitung des Deutschen Klubs in der Gerzenastraße aufzunehmen, dann würde man ihr mit ihrer politischen Erziehung an einer Abendschule behilflich sein. Aha. Das erklärt die Punkte 33 und 34.
Der in die Arbeit versunkene Heini – Entstehungsjahr unbekannt.
Sprödes Quellenmaterial. Die Briefe, die sie nach Leipzig schickt, kann man an
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