Meine Mutter, die Gräfin
Leben in Moskau. Aber inwiefern?
Herbst 1934
Mittwoch früh fuhr Heini los. Geduld! Wieder warten. In Prag ist ein brütendheißer Sommer, wir haben den 28. Juli, und er ist nach Moskau aufgebrochen. Jetzt muss sie warten, bis sie an der Reihe ist. Da sitzt sie auf dem Bett, in dem sie eben noch zusammen gelegen haben. Glättet die Laken, sieht aus dem Fenster. Immer ist sie es, die zurückbleiben muss. Aber, mag sie womöglich denken, während sie mit den Händen über ihren Bauch fährt, aber ab jetzt werde ich nie mehr allein sein: »Mir geht es sonst ganz gut, und ich glaube, Ihr könnt Euch darauf vorbereiten, im April Großeltern zu werden!« Ein kleines, frohes, ja fast triumphierendes Ausrufezeichen. »Jetzt Mutsch , jetzt wird endlich etwas daraus! Nun gut, die Lage ist nicht unbedingt besser als damals – in Österreich ist der kleine, konservative Diktator Dollfuß soeben von Nazis ermordet worden; das Schwarzbraun scheint um sich zu greifen, ist wie eine Pest – aber was soll man tun, irgendwann muss man ja mal. Und ich freue mich sehr.«
»Bald, ganz bald geht es los«, schreibt sie einen knappen Monat später: »Sollten wir uns wiedersehen, werde ich wohl nicht mehr allein sein, sondern ein ›Anhängsel‹ haben.« Sollten? Sollten? Ob sie schon etwas ahnt?
Am 25. August 1934 steigt sie endlich in Moskau aus dem Zug – »in dieser aufregenden und interessanten Stadt« –, und sie ist glücklich darüber, endlich die Reise und das lange Warten hinter sich zu haben. Heini kommt, muss aber gleich darauf wieder weg – »ich konnte nur ganz kurz mit ihm sprechen – ach, wann wird er endlich nach Hause kommen?« »Nach Hause« – die Rede ist von Zimmer 87 im Hotel Sojusnaja in der Gorkistraße. Ich sehe, wie sie sich darin um
sieht, als er gegangen ist. Wie sie vor Einsamkeit, Angst und Zorn weint: Warum konnte er noch nicht einmal jetzt bei ihr bleiben? Sehe, wie sie mit dem Auspacken anfängt, wie sie ein wunderhübsches rumänisches Tischtuch auf der hässlichen Kommode ausbreitet. Wie sie durchs Fenster sieht, eine Zigarette anzündet.
Jene Tage in Moskau! Was soll sie machen? Ja, was darf sie machen? Welche Bekanntschaften macht sie? Sind alte Genossen darunter? In welchen Kreisen verkehrt sie in dieser zunehmend paranoiden Stadt? Was für ein Straßenbild nimmt sie wahr? Verschließt sie wie alle Rechtgläubigen die Augen vor der nicht zu leugnenden Armut und der Not, vor den umherstreifenden Kindern, vor der peinlichen Zweiklassengesellschaft, die es nur bestimmten Auserwählten erlaubte, im »Torgsin« einzukaufen, wo es sogar trinkbaren Kaffee gab – ja, wo es, wie in Berlin, fast alles gab – während andere auf den »Mostorg«, den Moskauer Handel, angewiesen waren, wo es noch primitiver als in Radautz zuging und wo man das Schwarzbrot nach Gewicht kaufen musste und es noch nicht einmal in Papier eingewickelt wurde? Und diese Schlangen, diese endlos langen Schlangen, die sich durch das gesamte Viertel zogen, in denen die Menschen für eben dieses Brot anstanden. Was ist ihr da wohl durch den Kopf gegangen?
Und was ging ihr durch den Kopf, als sie sah, wie die Frauen hier behandelt wurden? Hier herrschten keine ritterlichen Manieren, im Gegenteil – so'n bürgerlicher Quatsch! Ob sie – wie Grete, die sich mittlerweile schon ein Jahr dort aufhielt – nur das sieht, was sie sehen will? Oder hat sie die sichtbare, tägliche Not: die Wohnungsnot, die Lebensmittelknappheit bemerkt – den Unterschied –, aber vielleicht wie Lion Feuchtwanger gedacht, dem deutsch-jüdischen Autor, der die Stadt zwischen 1936 und 1937 für ein paar Monate besuchte, dass die neuen, jungen Sowjetbürger davon über
zeugt waren, dass alles besser werden würde, weshalb sie sich auch nicht beschwerten? Im Gegenteil: Ihr im Westen solltet euch beschweren, lebt ihr doch von anderer Leute Not. Es war doch alles im Werden! Moskau soll doch umgebaut werden – 1935 würde Stalin seinen Generalplan vorlegen. Wie in New York würden die Wolkenkratzer in den Himmel ragen – nur schöner noch, großartiger! Eine U-Bahn ist im Bau, der Gorki-Park wird hergerichtet. Wie könnte sie auch nicht von der einsamen Größe des Roten Platzes fasziniert gewesen sein, vom Leninmausoleum, den breiten Straßen, auf denen sich die Massen auf dem Weg zur Arbeit drängeln, die dem Aufbau des Sozialismus dient? Bestimmt begegnet sie einigen berühmten deutschen Schriftsteller, die im Sommer 1934 den großen Sowjetischen
Weitere Kostenlose Bücher