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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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einer Hand abzählen, und sind noch nichtssagender als früher; die nette Sophie Kirschbaum aus Zürich hat sich um ihre Zustellung gekümmert. Mir liegen nur noch Mamas Briefe vor; die Schreiben, die sie von daheim bekommen hat, sind schon vor endlos langer Zeit in Moskau dem Vergessen zum Opfer gefallen, sind zu Asche zerfallen. Unmittelbar nach ihrer Ankunft am 25. August schreibt sie einen Brief. Den nächsten erst, als schon fast Weihnach
ten ist, am 18. Dezember – einen langen, schwafelnden Brief ohne Substanz, ohne auch nur irgendetwas Konkretes über diese »aufregende und interessante Stadt« zu sagen, nur das Altbekannte, Übliche über ihre Faulheit, darüber, dass sie so viel zugenommen hat – »nun darf ich nicht dicker werden« – eine seltsame Bemerkung, wenn man bedenkt, dass sie im April ein Kind zur Welt bringen soll. Sie beschwert sich darüber – immer dasselbe! –, dass der Mann in ihrem Leben meistens woanders ist und dass sie schon ein wenig verärgert deswegen sei, aber – auch wie üblich – dass es hier einen großen Kreis interessanter, charmanter und netter Freundinnen gäbe und sich auf ihrem Schreibtisch die Bü
cher stapelten, weil sie einen Kurs bei der Abendschule besuche.
    Daneben beruhigende und freudige Nachrichten an die Eltern, z.B., dass sie so jung aussähe, »kein Mensch will mir glauben, dass ich schon 28 bin – fein was? –, ich habe immer so verdammt viel Glück! Und trotz allem freue ich mich sehr auf die Niederkunft – bin sogar ganz ungeduldig –, aber ich sehe ein, dass ich vorher noch jede Menge lernen muss, weil ich immer noch zu wenig weiß und im Grunde sehr ahnungslos bin. Ma petite maman, je pense souvent, souvent à toi. Je t'embrasse, ne sois pas triste. On se verra un jour ou l'autre – liebes Mamachen, ich denke oft, sehr oft an Dich. Ich umarme Dich, sei nicht traurig. Wir werden uns früher oder später wiedersehen!«
    »Trotz allem?« Trotz was ?
    Dann ein Sprung zum 15. März 1935 – dazwischen fehlen Briefe, wichtige Briefe. Es fehlt der Brief, in dem sie schreibt, dass es kein »Anhängsel«, kein Enkelkind geben wird. Wieder nicht. Und es handelt sich nicht um eine Fehlgeburt.
    Ich rechne nach: Wenn sie mit der Geburt des Kindes im April, vermutlich Ende des Monats, gerechnet hat, dann heißt das, dass sie im Dezember, als sie sich so freut – trotz allem – und sogar etwas ungeduldig ist, im fünften Monat war. Mal angenommen, sie hat ihren dritten Schwangerschaftsabbruch im Januar gemacht. Da war sie bereits im siebten Monat. Ist ja grauenhaft. Warum tut sie das? Warum nur?
    »Du kannst ganz beruhigt sein«, schreibt sie im März 1935 an die arme Emilie, »die Operation hat mir dieses Mal wirklich nicht geschadet. [Was war mit den anderen Malen?] Allerdings möchte ich das wahrlich nicht noch einmal durchmachen, auf keinen Fall.«
    Was ist passiert? Was bewegt sie dazu, ihre Meinung so zu ändern und sich und ihrer Mutter die Ohren vollzulügen? Aber – lügt sie wirklich?

    »Ich glaube, es stimmt nicht ganz, was Du da über Egoismus und Genusssucht der heutigen Jugend schreibst! Es spielen da doch eine große Reihe ziemlich wichtiger und unumgänglicher Faktoren mit hinein, die es vor 20, 30 Jahren z.T. überhaupt nicht – oder nur für sehr wenige – gegeben hat. Die Welt hat sich doch inzwischen völlig geändert.
     Vor zwei, drei Jahren hätte ich trotz allem noch gern Kinder gehabt, aber jetzt? Wer weiß, wo ich im nächsten Jahr bin? Außerdem könnte ich so einen Unglückswurm ja auch nicht überall mit hinschleppen. … Ja, usw.«

    Ja »und so weiter« – mehr durfte sie schließlich nicht erzählen – lies zwischen den Zeilen, Mama! Aber das tut sie nicht – wie kann Emilie bloß annehmen, dass ihre Tochter aus reinem Egoismus und Genusssucht ihre Schwangerschaft abbricht, wenn sich das Kind doch schon in ihr bewegt hat, wenn sie es doch schon spüren konnte, wenn sie mit der Hand über ihren gespannten Bauch gestrichen und es gefühlt hat? Wie kann sie das annehmen? Was schreibt sie, Charlotte – leer, entleert, allein – von Zimmer 87 im Hotel Sojusnaja. Was ist im Herbst 1934 in dieser »aufregenden und interessanten« Stadt Moskau geschehen, das sie – sie? – dazu bringt, diesen Entschluss zu fassen, und warum sieht ihr Heini so blass und mager aus und muss ständig arbeiten?
    Der Mord an Kirow
    Alle sind sich einig darin, dass es mit dem Mord an Sergej Kirow, dem guten Freund Stalins, begann. Kirow war am

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