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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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1. Dezember 1934 in Leningrad, wo er Parteichef war, ermordet worden. Er wurde von Leonid Nikolajew in der ehemaligen Schule für höhere Töchter – dem Smolny-Institut, das die Bolschewisten 1917 übernommen hatten – von hinten erschossen, als er die Treppe zu seinem Büro hochging. Seine
Leibwächter waren unten geblieben. Stalin weint und tobt und fährt selbst nach Leningrad, um die Untersuchung zu leiten. All das hat etwas von einer sowjetischen van der Lubbe-Affäre an sich: Hat Nikolajew aus Eifersucht geschossen, weil Kirow ihn mit seiner Frau betrogen hatte? Oder weil er Trotzki nahe stand war? Oder hat womöglich Stalin selbst dahintergesteckt, damit er einen Anlass hatte, seinen großen Säuberungsapparat zu starten? Man weiß es nicht. »Das Rätsel wird kaum je schlüssig zu lösen sein«, schreibt Simon Sebag Montefiore in seiner großen Stalinbiografie. Aber das Ergebnis kennt man. Ein Ergebnis, das Heini eines Abends – hoffentlich erst nach Weihnachten und Silvester – vielleicht dazu bewegt hat, nach ihren Händen zu greifen und mit Tränen in den Augen zu stammeln »wir müssen«. Du musst. Es geht nicht. Mehr kann ich nicht sagen. Es ist verabscheuenswürdig, aber besser so. Wir wissen nicht, was passieren wird. Wer weiß, wo du nächstes Jahr bist? Was, wenn wir weg müssen? Wie sollen wir uns dann um so einen Unglückswurm kümmern? Sei jetzt eine beherzte Kommunistin, Lott. Es spielen da doch eine große Reihe ziemlich wichtiger und unumgänglicher Faktoren mit hinein, die es vor 20/30 Jahren z.T. überhaupt nicht gegeben hat. Die Welt hat sich doch inzwischen völlig geändert. Ob er nur so etwas äußert? X-beliebige Phrasen? Ob sie ihn danach noch lieben kann? Wirklich lieben?

    Ja, das Ergebnis kennt man. Der Mord an Kirow war der Auslöser für den Großen Terror, zuerst gegen die eigenen führenden Funktionäre, dann gegen die Genossen, die ins sozialistische Land der Träume gekommen waren, dann gegen wen auch immer – alle, die zufällig die Bahn derjenigen kreuzten, die diesen paranoiden Todestanz anführten.
    Mitte Januar – hat er jetzt nach ihren Händen gegriffen? – wird der erste Prozess gegen Sinowjew und Kamenew und
gegen ihre sogenannten Anhänger eingeleitet. Beide gehörten zu den alten Kampfgefährten, die schon lange vor der Revolution mit von der Partie gewesen waren und von Anfang an in vertrackte Fraktionskämpfe verwickelt waren – mit Lenin und gegen ihn, mit Stalin und gegen ihn, mit den Trotzkisten und gegen sie. Aber die Trotzkisten gelten jetzt als der große Feind, werden als das personifizierte Böse hingestellt – weshalb Grete und Heini Panait Istratis Geschichte, wenn ich Margarete Buber-Neumann glauben darf, auch mit dem Wort »Trotzkist!« zurückwiesen: »Du Feind, Verräter, scher' dich zum Teufel, Satan!«, werden sie vielleicht ausgerufen haben (siehe oben Kapitel 6).
    Beide, Sinowjew und Kamenew, hatten 1928 Abbitte geleistet und sich hinter Stalin gestellt. Sie konnten nicht unmittelbar mit dem Mord in Verbindung gebracht werden, weshalb die Anklage dahingegend modifiziert wurde, dass sie durch ihre Oppositionstätigkeit gegenüber Stalin die Autorität des Staates und der Partei untergraben und dadurch Nikolajew »im Grunde« ermuntert hätten. Und sie gestanden – gestanden ihre »moralische Schuld«. Und damit fangen sie an: diese Geständnisse aufgrund von Anschuldigungen, die jedes kleine Kind als haltlos, weit hergeholt, übertrieben und grotesk erachtet hätte. Jetzt beginnt die »Sonnenfinsternis«. Jetzt wurden sie nicht sofort getötet – wie geschehen mit Nikolajew –, sondern zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Was aber nicht hieß, dass die Sache damit erledigt war, oh nein.
    Am 6. Dezember fand im eiskalten Moskau ein Staatsbegräbnis statt. Stalin trägt seinen alten Uniformmantel. Molotow ist anwesend. Der Rote Platz ist mit Rosen geschmückt. Alle gehen hin. Da gehen sie, Hand in Hand, Genossin Stenbock und Genosse Kurella bzw. Schief. Sie friert in ihren viel zu engen, schwarzen Lederstiefeln, die Stiefel, die sie weggeworfen hat, als ich sie als Teenager für mich entdeckte;
meine Füße sollten nicht so wie ihre werden – kaputt, mit blaulila Knoten und missgebildeten großen Zehen, die beinahe über den anderen lagen. Aber der politischen Bewegung wegen vergisst sie ihre Füße. Glaube ich. Und ihres Zornes wegen. Wegen der schäbigen Hunde, die Genosse Kirow ermordet haben. Glaube ich.

    Zwei Jahre später, im

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