Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
Vom Netzwerk:
Abteilung.«
    Ein ganz anderes Leben; ein junger Mann, der sich wahrscheinlich in eine Russin verliebt hatte. Und sie bekamen ein Kind, womöglich konnte er bei ihrer Geburt dabei sein, ihre ersten Monate miterleben – bis er im August 1927 zurück nach Berlin ging. Ging er vielleicht gerade deswegen? Wurde er abkommandiert? Hat er darum gebeten? Nie, nie werde ich es wissen. Da steht sie, Charlotte, die nunmehr ihre dritte Abtreibung hinter sich hat, steht mit diesem kleinen Mädchen da, das ebenso blond ist wie er. Was macht sie? Mama spielen? Deutsche Märchen erzählen? Das Mädchen sieht sie aus blauen Augen an – kann sie überhaupt Deutsch verstehen? Ein bisschen? Schenkt sie Trost? Warum sollte sie das kleine Mädchen in ihrem Brief sonst erwähnen?
    Alles bleibt unausgesprochen, lässt sich nur ahnen: »Denke oft an Euch und würde Euch gern mal wiedersehen und mich mal wieder so richtig ausquatschen; es gibt auf beiden Seiten sicher viel zu erzählen …«

    Sommer 1935 in Moskau. Die Stadt bereitet sich auf den 7. Weltkongress der Komintern vor. Und sie kauft Blumen. Und Grete und Heinz kamen nach Moskau, kamen im Juli. Ach, warum sind sie bloß gekommen? Warum sind sie nicht abgesprungen? Sie sind von Le Havre mit dem Schiff nach Leningrad gefahren – und sie ahnen, was ihnen blüht. Heinz' bester Freund Lominadse hat nach dem Mord an Kirow Selbstmord begangen, und Grete versucht, das dumpfe Gefühl einer Vorahnung abzuschütteln, das sie verspürt.
    Als sie jedoch in Leningrad eintreffen, werden sie herzlich empfangen – werden ins beste Hotel gebracht, bekommen Fahrkarten für den Schnellzug nach Moskau und werden dort im Hotel Lux einquartiert. Was sollen sie davon halten? Sie kennen schließlich die Anzeichen – funktioniert das Te
lefon? Ja, es funktioniert tatsächlich! – Ach, endlich haben sie mal Glück – die Lampe brennt auch und es gibt fließend Wasser! »Wir fielen uns lachend in die Arme und erlebten die ersten glücklichen Stunden ohne Angst …«
    Doch dann rief Pieck an, ja ausgerechnet Pieck, und befahl ihnen, ins Baltschuk zu ziehen – ein anderes Emigrantenhotel, ein Unheilvolles, eines, in dem Schädlinge untergebracht wurden. Heinz protestiert – nirgendwohin kämen sie, die Komintern habe ihnen das Zimmer im Lux zugewiesen, aber sie wissen, dass Wilhelm Pieck weiß, dass der Countdown läuft. »Jetzt kannten wir unsere wirkliche Lage.«
    Moskau war zu dem Zeitpunkt, im Sommer 1935, in der Tat eine vollkommen andere Stadt als noch im Sommer zuvor. Das ganze unbeschwerte Gesellschaftsleben, das unter den blauäugigen Idealisten aus dem Ausland geherrscht hatte, war wie weggeblasen. Auf Utopia fällt ein Schatten. Niemand brachte den Mut auf, sie zu besuchen, niemand, nur eine Handvoll guter alter Freunde, unter anderem die Kurellas. Und so begann ihr düsteres, von Anspannung beherrschtes Warten in Zimmer 411 des Hotel Lux, das schräg gegenüber vom Sojusnaja lag; sozusagen ein Leben unter Hausarrest, das nur aus Arbeit bestand – Dokumente für den Komintern-Kongress hin und zurück zu übersetzen, der in vollem Gange war.
    Ja, der Kongress. Es handelte sich also um den 7. Weltkongress der Komintern, der von Ende Juli bis Ende August 1935 stattfand. Jener berühmte Kongress, auf dem die Strategie und die Taktik geändert wurden, auf dem Hitler und der Nationalsozialismus endlich anstelle der Sozialdemokratie zum Hauptfeind erklärt wurden. Als eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten gegen den Nationalsozialismus nicht mehr als das schändlichste aller Verbrechen angesehen, als Stalin – der Gottgleiche – dem Satan Hitler gegenübergestellt wurde. Und als die kommunistische Politik in den
verschiedenen europäischen Ländern nun »rational« wurde, d.h. sich die Weltrevolution entwickeln sollte und die »Zerschmetterung« des Faschismus – das letzte Stadium des Kapitalismus – formuliert wurde und die Taktik lautete, mit allen guten Kräften zusammenzuarbeiten, selbst wenn sie kein Parteibuch besaßen – ja, da begannen gleichzeitig die Säuberungen, die Anklagen, Verhaftungen, parallel dazu wuchs die Paranoia in den eigenen Reihen. Wenn das nicht absurd ist?
    Alltagsleben
    Ende 1935 gehen zwei Briefe hin und her. Einer davon wird am 14. Dezember im Zimmer 87 des Hotels Sojusnaja geschrieben:

    »Warum habe ich so lange nichts von Euch gehört? Es ist mindestens ein Vierteljahr seit Eurem letzten Brief vergangen. Uns geht es weiterhin sehr gut hier und ich

Weitere Kostenlose Bücher