Meine Mutter, die Gräfin
diesem Brief herum, ihnen missfällt, dass Kurella im Juni 1936 die Freundschaft zu ihm wieder aufleben lässt. Warum aber hat Kurella dann diesen Brief geschrieben – warum hat er seinen alten Freund verraten, sodass dieser aus der Partei ausgeschlossen und aus dem Hotel Lux geworfen wurde, alles was er besaß, verkaufen musste, um nicht zu verhungern? Warum hat Kurella diesen Brief geschrieben, dass man sich auf Süßkind, den alten »Versöhnler«, nicht verlassen könne, dass man die Partei vor ihm warnen müsse?
Aus Angst, denke ich. Ihre Hände sind eiskalt, seine ganz feucht. Er umschließt ihre Hände mit seinen. Sie opfert ihr Kind, er seine Ehre. Er ist Judas, er verrät seinen alten Freund.
Und das wissen die alten Genossen nur zu gut, weshalb sie diese Sache auch auf sich beruhen lassen, denke ich. Da gehen sie hinein und löchern ihn und stellen Dinge in Frage und werfen mit Verdächtigungen um sich, dabei geht es doch gerade um den Purzelbaum, die Kehrtwende, die Freundschaft, die im Juni 1936 wiederauflebte.
Aus Kurellas Blickwinkel muss die Begegnung mit Süßkind eine Befreiung gewesen sein: Er ist im Juni auf einer Funktionärskonferenz, er sieht, dass der Kommunismus seinen Freund wieder in seine Arme geschlossen hat, er erfährt, dass er ebenfalls wieder Arbeit innerhalb des Apparates bekommen hat, und freut sich – glaube ich. Er geht zu ihm: Süßkind! Servus! , oder wie immer sie sich begrüßten, Tag! Ob Süßkind weiß, dass hier der Kurella steht, der Anteil daran hatte, dass ihm ein Jahr voller Elend beschert worden war? Ob er das weiß? Kann er das verstehen? Das verzeihen? Hätte er es genauso gemacht? Oder hat er gar keine Ahnung?
Genug davon – sie treffen sich, Kurella erneuert seine Freundschaft zu ihm, und sie fangen wieder an, miteinander zu verkehren. Wie oft, wird genauestens registriert: Kurella besucht fünf, sechs Male Süßkind und Süßkind sucht ungefähr ebenso häufig Kurella auf. Eine enge Freundschaft, mit anderen Worten, auch wenn es nur um diesen einen Monat ging.
Der »Kommission« zufolge, die den Auftrag erhalten hatte, die »Frage Kurella« zu untersuchen, kam diese Freundschaft erneut zustande, weil er sich von Süßkinds Auftreten hinters Licht führen ließ: »Nachdem man Kurella mitgeteilt hatte, dass er wieder aufgenommen worden sei und Neumann (bei Remmele) arbeiten sollte, und weil Süßkind so ehrlich gewesen sei, schenkte er [Kurella] ihm wieder sein Vertrauen.«
Scholdak aber, der erneut den Vorsitz führt, stellt das nicht zufrieden: Kurella soll sich erneut erklären. Und Kurella redet. Und redet und redet. Er ist ein Mann, der ans Reden gewöhnt ist, geht mir durch den Kopf. Er weiß mit der Macht der Worte umzugehen – vielleicht denkt er ja, er könne sich freisprechen? Er greift oft zu dem rhetorischen Kniff, selbst das Problem in Worte zu fassen, es zu wiederholen, das Problem auf die Spitze zu treiben:
»Die Partei muss von mir wissen, wie ich dazu kam. Ein Mensch, der eben erst ausgeschlossen ist, der wieder aufgenommen wurde, auf den ich meine Augen gelenkt habe, gegenüber dem die Partei aufmerksam sein muss, wie kam ich dazu, mit ihm zu verkehren? Ich bin dazu gekommen, durch die allgemeine Einstellung zu den Fragen der Partei, habe nicht genügend auf die Parteidisziplin geschaut, auf die Parteireinlichkeit, Wachsamkeit, und dies war grundfalsch.«
Das wird er vermutlich weiter gesagt haben:
»Ich habe schließlich gedacht – vor dem Mord an Kirow –, dass ich mich zu wappnen wusste, andere durchschaute, dass mich keiner hinters Licht führen könne. Aber ich bin naiv gewesen, habe Süßkind, diesen Doppelzüngler, nicht durchschaut, habe ihm geglaubt, als er frei von der Leber weg sprach – davor habe ich nur theoretisch davon gewusst, dass es solche Menschen gab –, und dass ich ihn nicht entlarven könnte, nein, das habe ich für unmöglich gehalten – aber ich habe das ganze Ausmaß nicht begriffen, habe nichts gemerkt, sondern an Süßkind geglaubt. Ich habe nicht gewusst, dass es solche Doppelzüngler in meiner eigenen Umgebung gegeben hat – habe die primitive Auffassung vertreten, dass jemand, der von der Partei wieder in Gnaden aufgenommen worden ist, ja, dass das doch ein Beweis dafür war, dass er ein geschätzter Genosse war – auch wenn Neumann mich gewarnt hat, gesagt hat: Du, es wäre besser, wenn du keinen Umgang mit ihm hast – er gesagt hat: Hat er wirklich mit den ›Versöhnlern‹ gebrochen usw.
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