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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Sicherheit um über tausend Menschen gehandelt – dazu kamen noch zahlreiche Verletzte.
    Das führte dazu, dass die Kämpfe immer politischer wurden. Bald gärte es auch ringsum in den von den Russen beherrschten Gebieten, nicht zuletzt im alten Livland, das nach der Niederlage der Schweden in der Schlacht bei Poltawa 1709 russisch geworden war und wo die einheimischen Bauern und Arbeiter nicht nur den Russen, sondern auch noch den deutschen Adel über sich hatten.

    Als Emilie und Fritz am 1. Mai nebeneinander im Garten hinter dem Haus des Handwerksvereins sitzen und spüren, wie sich ihre Brust vor lauter Gefühlen weitet, als sie vom Mai, der gekommen ist, singen, da finden gleichzeitig die größten politischen Demonstrationen statt, die das damalige Estland je gesehen hatte.
    Was hier ein buntes Bild entstehen ließ, war der Umstand, dass die Revolution sich gegen die russische Übermacht und gegen den deutsch-baltischen Adel richtete – beispielsweise gegen Leute wie Herrn von Liphart. Deshalb ergaben sich Konstellationen, die auf der einen Seite russische Revolutionäre und estnische Arbeiter und auf der anderen russische Regierungstruppen sowie deutsche und estnische Nationalisten aufeinanderprallen ließen.
    In Dorpat scharten sich die moderaten Kräfte – liberale, könnte man vielleicht sagen – um die Zeitung Postimees , die die Forderung nach Demokratie und einer Verfassung unterstützten, jedoch davon absahen, die russische Übermacht zu bekämpfen. Ihnen gegenüber standen die Sozialrevolutionäre, die in zwei Fraktionen zersplittert waren: Da waren die sogenannten Zentralisten, die an die russischen Sozialisten anknüpften – und dann die sogenannten Föderalisten, die sich eine eigene, nationale Sozialdemokratie wünschten und wo sich die Studenten und die Schuljugend mit Industriearbeitern mischten. Hier handelte es sich um einen bewaffneten Aufstand. Ja, du liebes bisschen, was für ein Mischmasch! Darüber hinaus gab es noch eine Gruppe radikal-sozialistischer Nationalisten (die vor allem in Tallin verortet waren), denen es in erster Linie um eine umfassende Bodenreform ging.

    Ich will gar nicht erst versuchen, die verwickelten Ereignisse des Revolutionsjahres von 1905 zu entwirren. Der Höhepunkt der Revolution ereignete sich im Herbst, in dem Streiks,
Demonstrationen und Gewalt den Ton angaben – im Oktober erschoss das Militär nahezu hundert Arbeiter in Tallinn –, bis mit dem Oktobermanifest von Zar Nikolaus II . Zugeständnisse gemacht wurden, die der »Provinz« mehr Freiheitsrechte und Selbstständigkeit versprachen.
    Aber das glättete nicht die Wogen. Stattdessen verschärften sich die Unruhen und eskalierten im November und Dezember, als – vor allem in Nordestland – Banden von Arbeitern und aufständischen Bauern über 160 deutsch-baltische Herrenhöfe und -güter ansteckten (jeden fünften). Die Rache für 700 Jahre währende Leibeigenschaft, wie die Propaganda tönte.
    Der Aufstand wurde niedergeschlagen. Eine Regierungsarmee aus über 19 000 Soldaten und speziellen Korps half dem deutsch-baltischen Gutsadel, erschoss über 300 Personen ohne Gerichtsverfahren oder Verhör – inzwischen haben wir schon das Jahr 1906 –, verprügelte über 600 Menschen und nahm Hunderte fest, die nach Sibirien gesandt wurden. Gewerkschaften, sozialistische Parteien und Organisationen wurden verboten – die Roten wurden gedemütigt. Aber es bekamen auch immer mehr dunkelblaue deutsch-baltische Gruppierungen Zulauf, die damit liebäugelten, das Baltikum mit Deutschland zu vereinen, und deshalb Kontakt zu Berlin suchten.

    Und mittendrin in diesem Wirrwarr also Fritz und Emilie, die als Gouvernante auf dem großen, reichen Ratshof arbeitete. Was geschah dort? Fritz zufolge kam es im August 1905 zu ersten revolutionären Übergriffen auf das Gut, und er war vor Sorge um Emilie ganz außer sich. Es wurde zwar eine Ausgangssperre verhängt – aber auf dem Schloss, was ging auf dem Schloss vor sich? Voller Besorgnis trotzt er also dem Ausgangsverbot und macht sich durch die finstere Nacht auf, um nach seiner jungen Verlobten zu sehen – in der einen
Hand den geladenen, schussbereiten Revolver. Schatten eilen an ihm vorbei, Schüsse werden laut. Fritz umklammert seinen Revolver fester. Erreicht endlich das ein paar hundert Meter vom Gut entfernt liegende Verwalterhaus. Die Familie von Liphart ist geflohen und hat das Schloss unter den Schutz des Verwalters und Emilies gestellt – ja, so

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