Meine Mutter, die Gräfin
Geheimdienstmitarbeiter namens Hansen schleicht ihr durch die Kopenhagener Straßen hinterher und erstattet bis in alle Einzelheiten Bericht über ihre Aktivitäten – wen sie trifft, worüber sie sprechen, wie sie heißen –, endlich sollte ich alles erfahren!
Doch wir befinden uns im Dänemark des Jahres 1937, und einen Hansen gibt es nicht – nur die Polizisten Jensen und Wiedbrecht, die das Büro der Auslandsabteilung nicht einmal verlassen. Stattdessen wird sie dorthin chauffiert, muss sie ungefähr einmal pro Woche die Behörde aufsuchen, denn darum geht es in besagtem Material: dass diese relativ junge, attraktive Gräfin keinen gültigen Pass besitzt und nicht in Dänemark bleiben kann. Sie muss das Land verlassen und Jensen und Wiedbrecht gegenüber Rechenschaft darüber ablegen, welche Schritte sie unternimmt, um einen anderen Aufenthaltsort zu finden, weil ihr sonst die Abschiebung nach Deutschland droht.
Nachdem sich meine erste Enttäuschung gelegt hat, fällt mir allerdings auf, dass sich hinter diesem Bürokratendänisch neue Puzzleteile verbergen – wertvolle Puzzleteile, die es mir ermöglichen, das Bild von Mama und ihrem Lebensweg, das ich so behutsam zusammensetze, weiter zu vervollständigen.
Am 18. Februar haben sie meine Mutter in der Pension Lucas aufgestöbert. Vermutlich hat man ihnen einen Tipp gegeben – dass sie sich dort illegal aufhält. Vielleicht kam er von deutschen Exilkommunisten, vielleicht war dieser Teil von Gretes Geschichte wahr. Oder ist dem Hotelbesitzer einfach nur aufgefallen, dass ihr Pass nicht länger Gültigkeit besaß? Schließlich fragen die Polizisten sie nach ihrem Pass:
»Als sie uns ihren Pass zeigte, dessen Gültigkeit am 5. Februar 1937 abgelaufen war und der nur für ihre Heimreise
nach Deutschland über den Grenzposten Tilsit gegolten hatte, und sie im Übrigen erklärte, eine Politemigrantin zu sein, wurde sie heute um 10 Uhr in unsere Abteilung überführt. Eine Leibesvisitation wurde in dem Maße, wie der Anstand es gebot, durchgeführt, und es stellte sich heraus, dass sie den zuvor genannten Geldbetrag (50 Dollar und 13 Dänenkronen und 33 Öre) und darüber hinaus nichts von Bedeutung besaß.«
Da sitzt sie nun am Donnerstag, den 18. Februar in der Auslandsabteilung des Polizeidistriks Kopenhagen, und: Bitte sehr, Fräulein , Verzeihung, Frau Gräfin Stenbock-Fermor, würden Sie uns jetzt freundlicherweise erläutern, wer Sie sind und was Sie hier machen?
Und Charlotte umreißt ihre Lebensgeschichte, ihre Stationen, in wenigen, knappen Worten: Da wären Dorpat, Oxford, Radautz, Weimar, Jena, Berlin und die Arbeit beim Lorentz Verlag und bei Philips Glühlampen, da wäre die Ausreise nach Zürich im März 1933, und da – ja da überspringt sie graziös ihre Verhaftung und ihre Ausweisung im Juni 1934 und behauptet stattdessen, bereits im Juni 1934 in Moskau gewesen zu sein und dort bis 1936 bei der Flamme der Revolution (= Iskra Rewoljuzii ) gearbeitet zu haben. Dann erfahre ich Dinge, die mir neu sind: Dass sie 1936 Sekretärin für verschiedene Geschäftsleute gewesen sein soll und in Moskau zuletzt für den deutschen Exilschriftsteller Ernst Ottwalt gearbeitet habe, der zwischenzeitlich, im November 1936, verhaftet worden sei – nein, keine Ahnung, weshalb. Und dann folgt wieder ihre rührselige Geschichte – der Teil aus Gretes Geschichte stimmt also mit Sicherheit:
Ihr sei in Russland nicht länger wohl zumute gewesen, und da sie sich darüber hinaus noch mit Kurella überworfen hätte, habe sie sich dafür entschieden, Moskau zu ver
lassen. Im Dezember habe sie den deutschen Botschafter in Moskau aufgesucht, um sich einen neuen Pass ausstellen zu lassen (da ihr alter Pass 1935 abgelaufen sei). Sie habe die Antwort bekommen, dass man ihr nicht sofort einen neuen Pass ausstellen könne, sondern erst nach Deutschland schreiben müsse. Im Januar 1937 sei ihr dann der vorliegende Pass ausgestellt worden, der allein für ihre Heimreise nach Deutschland über Tilsit gegolten habe und dessen Gültigkeit am 5. 2. 1937 ausgelaufen sei. Sie müsse hinzufügen, dass vor der Ziffer 5 des Datums ein senkrechter Strich mit Bleistift stünde, sodass man das Datum auch als den 15. auffassen könne. Sie erläuterte, dass dieser Strich sich bereits im Pass befunden habe, als sie ihn erhielt, man ihr jedoch gesagt habe, dass er nur bis zum 5. 2. 1937 gültig sei.
Und mit ihren graublauen Augen sieht sie Jensen treuherzig an, nimmt
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