Meine Mutter, die Gräfin
zartfühlend versuchen, ein verlorenes Paradies zu erschaffen, und nach anderen suchen, die sich noch daran erinnern, andere, die nach der Judenvernichtung und Diaspora nach Verwandten suchen. Auch in Fritz' Papiermusterheft stoße ich auf die prägnante Synagoge mit ihren beiden Türmen. Sie liegt einsam und irgendwie verloren da, wie so viele große Gebäude früher – auf sandigen, freistehenden Plätzen, die noch nicht zu Parkplätzen umfunktioniert wurden. Im Hintergrund lassen sich kleine einstöckige Häuser mit tief heruntergezogenen Dächern erkennen – sie sehen wie Bauernhöfe aus. Und am Markttag wimmelte es auf der lehmigen Straße mit den einstöckigen Häusern nur so von Menschen, wie ich auf der Aufnahme sehe – viele von ihnen tragen die charakteristischen kegelförmigen Filzkappen und weiße, gerade lange Hemden, die in der Taille von einem Riemen zusammengehalten werden. Rumänen.
Das Wohnhaus der Familie Schledt in Radautz um 1916/1917.
Im Album ist ein Bild, das mich besonders fasziniert – oh, hierfür hätte ich die unter ihrer Decke zusammengekauerte Leni geweckt und gefragt: Wie viele Zimmer hat es gegeben? Hattest du ein eigenes? Oder wohnten die Kinder alle in der Kinderstube? Und die Möbel – Mahagonimöbel im Esszimmer? Ist das das Haus, das ihr 1932 auf Drängen der Behörden verlassen musstet? Auf dem Foto steht die Familie einschließlich Bediensteten und – wie ich annehme – einem
Buchhandelsgehilfen vor einem stattlichen Haus mit Turm, das schmiedeeiserne Verzierungen über der Tür aufweist und schöne, von Ornamenten eingefasste Fenster. Vielleicht ist es die blonde Resi – die Melancholische – die sich um Haus und Kinder kümmert und sich dort an der Ecke des Hauses herumdrückt? Es ist wohl Krieg – Fritz hat seinen Uniformmantel an, wahrscheinlich stammt die Aufnahme von 1916 oder 1917. Meine Mutter sieht jedenfalls nicht älter als acht oder zehn Jahre aus. Es sind diese Fenster, durch welche die russischen Soldaten im Dezember 1914 sehnsuchtsvoll auf den funkelnden Weihnachtsbaum starren, und hier, wo meine Mutter Glücksschauder überlaufen, als sie das Lagerfeuer der Kosaken sieht, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihr Lager aufgeschlagen haben.
Lottie
Aber Leni ist tot. Alle sind tot, die von den Gerüchen, den Mahlzeiten, dem Garten, den Nachbarn, den Bekannten, der Schule, den besten Freunden, den Geburtstagen, den Festen hätten erzählen können. Es existieren noch ein paar verschwommene Bilder von Lenis Zimmer aus den späten Zwanzigerjahren und eines, auf dem Emilie irgendwo liegt und liest – das ist alles. Ich kann mich noch an den weißgestrichenen Holzstuhl aus der Küche in Leipzig und die Bücherregale mit den Glastüren erinnern, die sie aus Radautz mitgenommen hatten. Nicht gerade viel, um Mamas Kindheit nachzuzeichnen und daraus eine Geschichte zu entwickeln. Na gut, es gibt da ein paar Seiten, die aus ihrer Feder stammen: Ein kleines Mädchen erlebt den Krieg . Als ob sie Anstalten gemacht hat, ein Buch zu schreiben, das nie geschrieben werden soll. Und dann sind da Fotos. Ziemlich viele sogar – Zeugnisse aus dem glücklichen Leben einer Bürgerfamilie. Als blonder Lockenkopf strahlt sie in die Kamera. Immer lächelt sie, im Gegensatz zu ihrem kleinen Bruder Otto mit seiner mürrischen Miene und dem erschrockenen Gesichtsausdruck ihrer kleinen Schwester Leni. Lolotte nennt ihre Mutter sie, Lottie ihr Vater. Vatis kleines Mädchen.
Aber es existieren natürlich auch noch Emilies letzte Briefe aus dem Frühjahr 1939, in denen sie aus ihrem gemeinsamen Leben erzählt: »Als Dein Vater nach Hause kam, bist Du ihm entgegengeeilt – er hat Dir ein Stück Schokolade gegeben: Geh und bring's Mama, und Du hast auf allen vieren die von einem schmalen Läufer bedeckte enge Treppe erklommen. Der Läufer zog sich bis zum Ende des Ganges hin, wo ich Dich schon erwartete. Es dauerte nicht lange, bis Du mir triumphierend die Schokolade entgegenstrecktest. Dann gingen wir gemeinsam hinunter, um Kaffee zu trinken, und teilten uns die Schokolade.«
Das war eine unbeschwerte Zeit, in Oxford. Aber dann
kam Otto. Und da wurde Klein Lolotte, Lottie krank vor Eifersucht, wie Emilie weiter berichtet: »Du warst völlig außer Dir, weil Dein Vater nur noch von seinem Knaben Otto Notiz nahm, und das, obwohl Du doch bis dahin sein Liebling, ja, sein Ein und Alles gewesen warst. Du wusstest wirklich, wie Du ihn für Dich in Beschlag nehmen konntest.
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