Meine Mutter, die Gräfin
zunächst gehörte sie zu Galizien, bis sie ab 1849 ein selbstständiges Herzogtum mit Czernowitz als Hauptstadt wurde.
Sie lag gewissermaßen im entlegensten Winkel der habsburgischen Monarchie Österreich-Ungarn, wie ein kleiner von Russland und Rumänien eingeschlossener Zipfel. Nach dem Ersten Weltkrieg fand sich das kleine Herzogtum unter der Herrschaft von Rumänien wieder, und 1940 gerieten Teile der Bukowina als Folge des Hitler-Stalin-Paktes an die Sowjetunion, als die beiden – Räuber, die sie waren – heimlich untereinander Länder und Landstriche tauschten. Als die Sowjetunion zerfiel, wurde aus der nördlichen Bukowina – wo auch Czernowitz angesiedelt ist – ein Teil der Ukraine, während der Rest weiterhin rumänisch blieb. Diese unzähligen, verschiedenen »Herrschaften«, und das nur innerhalb
eines einzigen Jahrhunderts – nicht übel. Oder vielmehr – ziemlich übel.
Im Jahr 1912 war die Bukowina indes noch eine Einheit: Buchenland. Zu der Zeit lebten noch nicht einmal eine Million Menschen in dem Gebiet, das noch völlig ländlich war, fast keine Industrie besaß und dessen Haupterwerbszweig die Forstwirtschaft war. Von den etwas über 800 000 Einwohnern sprachen ca. 38 Prozent Ruthenisch (Ukrainisch), 34 Prozent Rumänisch und 21 Prozent (wovon ca. 60 Prozent Juden waren) Deutsch. 5 Prozent sprachen Polnisch, 1 Prozent Ungarisch und 1 Prozent verteilte sich auf andere Sprachen …
Czernowitz
Dann kam erst Czernowitz (deutsch), Tschernowitz (jiddisch), Tschernowzy (russisch), Tscherniwzy (ukrainisch) und Cernăuţi (rumänisch), wie es in anderen Sprachen hieß. Es war die Hauptstadt der Bukowina, in der es Ende der 1890er Jahre schon elektrische Straßenbeleuchtung (im Zentrum) und eine Straßenbahn gab. In Czernowitz war die ganze Welt zu Hause, die Stadt war wahrhaftig kein entlegener »Winkel«, sie war ein Zentrum – 1910 hatte sie 87 113 Einwohner. Fast die Hälfte von ihnen hatte Deutsch als Muttersprache, die meisten von ihnen waren Juden. In Wien wurde Czernowitz auch »Jerusalem am Pruth« (gemeint ist der Fluss Pruth) genannt. »Der Jordan mündete damals in den Pruth«, wie die Dichterin Rose Ausländer schrieb.
Die Bukowina war so etwas wie eine Ausnahme – ein Ort zum Aufatmen, ein Gebiet in Europa, in dem die Juden ohne rechtliche Beschränkungen gleichberechtigt leben konnten und von 1867 an auch Boden erwerben durften. Ein paar der großen Güter waren jüdisch (auf einem von ihnen wuchs Wilhelm Reich auf, der mit der Orgasmustheorie), wenngleich sie sich vor allem in den Städten und hier hauptsächlich in Czernowitz ansiedelten.
1880 hielten sich 14449 Juden in der Stadt auf, 1900 waren sie schon auf über 17 000 angewachsen und 1910 – ungefähr, als die Schledts dorthinzogen – waren es schon über 21 500, wobei sich die meisten von ihnen um Benno Straucher scharten, der zu den Deutschliberalen gehörte. Denn hinter der Bezeichnung »Juden« verbarg sich bei weitem keine homogene Gruppe – im Gegenteil: Dort war die ganze bunte Palette vertreten: Liberale, orthodoxe, chassidische Juden und die sogenannten Haskala-Anhänger, Zionisten, sogenannte Bundisten und Marxisten. Der Großteil von ihnen war arm, andere gehörten zum Mittelstand und manche waren steinreich.
Dann lebten dort Ukrainer und Volksdeutsche wie die Schledts sowie Ungarn, Polen, Armenier und andere. Sie alle hatten ihre eigenen Vereine, Lesegesellschaften, Theater, Sportvereine (z.B. »Turnvater Jahn«) und verschiedene politische Vereinigungen, wie den »Verein der christlichen Deutschen«, den »Verein zur Förderung der Tonkunst in der Bukowina« und so weiter. Allein die Juden vereinten zu der Zeit über hundert philanthropische, religiöse und kulturelle Vereine auf sich. An allen Enden und Ecken der Stadt wurde musiziert, Theater aus Moskau, Wien, Wilna (heute Vilnius) und Bukarest gaben Gastspiele und das Leben in den Kaffeehäusern florierte, als sei man in Wien. So konnte man im Schwarzen Adler, im Café Habsburg in der Herrengasse oder im Café l'Europe sitzen und rauchen, einen Kaffee trinken, miteinander plaudern und eine der großen deutschen Tageszeitungen – oder gleich alle vier – studieren: Das Czernowitzer Tagblatt, die Czernowitzer Allgemeine Zeitung , das Czernowitzer Morgenblatt und die Bukowiner Rundschau .
In der Stadt mit der stärksten Judenpräsenz in ganz Europa waren die Rumänen die schlimmsten Antisemiten – die ethnischen Unruhestifter, wie sie in einem
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