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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Schach
spielen, nachdem Dein Vater ihnen kurz erläutert hatte, was der Sinn dieses Spiels war. Wir ließen sie gewinnen, und sie freuten sich wie die Kinder und waren entzückt über unsere Gastfreundschaft.
     Erst nachdem das Spiel beendet war, holten sie mit einer entschlossenen Geste das Portemonnaie und die Uhr aus ihren Taschen, und nachdem sie uns gefragt hatten, weshalb wir Krieg gegeneinander führten, gingen sie ihrer Wege. Sie wünschten uns noch eine gute Nacht und versicherten, dass uns niemand anderes mehr behelligen würde. Und so konnten wir uns unbesorgt schlafen legen. 
     Die russische Besatzung dauerte einen Monat. Unter den Offizieren befanden sich alte Bekannte aus Dorpat, was uns sehr beglückte, von unserem hiesigen Bekanntenkreis aber mit Argwohn betrachtet wurde.«

    »Böse Zungen«, erzählt sie weiter, »fingen an zu zischeln: Er, der Deutsche, der Buchhändler, hatte er nicht russische und rumänische Zeitungen gelesen? War es nicht erstaunlich, wie reibungslos sie um die Plünderungen herumgekommen waren?« Nachdem sich die Russen zurückgezogen hatten – »in Reih und Glied« –, mehrten sich die Zungen, und »diese Denunzianten« wandten sich mit ihren Anschuldigungen ans Kriegsgericht. Emilie wird immer verzweifelter – war Fritz doch durch das neutrale Rumänien nach Wien gefahren, um das Papiersortiment der Buchhandlung zu ergänzen, als die Anklage wegen Landesverrats eintraf: Der Deutsche soll behauptet haben, dass Przemyśl, die stolze Festung der Habsburger, dem Angriff nicht standhalten könne, und in der Buchhandlung seien alle Landkarten verschwunden – ob er sie etwa den Russen gegeben habe? Es würde noch nicht einmal mehr Karten für die Grundschule geben.
    Da geht sie, Emilie, ungeduldig hin und her und wartet
auf seine Rückkehr – das muss doch als Beweis für seine Unschuld genügen? Dass er gedenkt zurückzukommen? Zuletzt hält sie dieses Warten nicht länger aus und setzt sich in den Zug, um ihm entgegenzufahren – ihn zu warnen –, verpasst ihn aber in Solca, wo sich die Züge begegnen. Wie in einem Liebesfilm steigen sie auf zwei verschiedenen Seiten aus; sie muss einen ganzen Tag lang warten, und als sie endlich wieder zu Hause ankommt, ist er bereits verhaftet worden und sitzt in der örtlichen Polizeiwache ein.
    »Das wird sich schon alles aufklären«, beschwichtigt Emilie ihn und greift nach seiner Hand, denn was sonst kann sie sagen? »Du wirst sehen, schon bald bist du wieder auf freiem Fuße – andererseits – was wusste ich schon? Die Wirkung jedoch war enorm: Mein armer Gatte schöpfte augenblicklich neuen Mut und nahm geistig wie körperlich wieder eine aufrechte Haltung ein.«
    Detailliert und dramatisch erzählt sie ihrer Tochter Charlotte von diesen quälenden Tagen. Erzählt ihr, wie der Auditeur (Militärjurist) die Anschuldigungen vorbrachte und noch hinzufügte:
    »›Madame, falls Sie und Ihr Gemahl bezüglich Ihrer Zukunft etwas zu entscheiden haben, dann sollten Sie jetzt handeln, denn das Urteil wird binnen zwei Stunden nach der Verkündung vollstreckt.‹
    ›Und wann [fragte Emilie starr vor Schreck, aber äußerlich vollkommen ruhig] wird das Urteil gefällt?‹
    ›In zwei Tagen, Madame.‹
    ›Aber es ist doch gänzlich unmöglich für mich, innerhalb von zwei Tagen Zeugen ausfindig zu machen, die meinen Gatten in dieser Strafsache entlasten können. Ach, seien Sie doch so gut und verlängern die Frist auf acht Tage! Wir Zivilbürger haben doch keinen Zugang zu Post und Telefon. Ich benötige mehr Zeit, um die entsprechenden Leute aufzusuchen.‹
    ›Nun gut – da Ihr Angetrauter Deutscher ist, stimmen wir dieser Verlängerung zu.‹
    ›Ist es mir gestattet, meinem Gatten Kleidung und Lektüre zu bringen?‹
    ›Ja, aber beides wird Kontrollen unterzogen.‹«

    Also holt sie das Buch Hilfe zur Selbsthilfe und Bettwäsche für ihn, der seine Zelle mit Slowaken aus Ruthenien teilen muss, die kein Wort Deutsch sprechen. Und deren einzige Abwechslung darin bestand, das Ungeziefer in die Flucht zu schlagen, von dem sie von Kopf bis Fuß übersät waren …
    Emilie vergegenwärtigt sich, wie sie und ihr kleiner Liebling Otto am Tag vor dem Gerichtsverfahren die Eisenbahnschienen entlanggingen und dabei auf einen Leichenzug mit einem soeben hingerichteten Ruthenen stießen – als wäre es ein Omen. Das Verfahren dauerte von drei Uhr nachmittags bis nachts um halb zwölf. Offenbar hatte die patente Emilie ihren gesamten

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