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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Ich war beinahe neidisch, weil er mich gar nicht mehr wahrnahm … Es dauerte fast zwei Wochen, bis in Deinen großen, traurigen, schönen grauen Augen wieder die Sonne schien. Erinnerst Du Dich noch daran, welches Leid Du Otto zufügen wolltest? Wie sehr Du ihm schaden wolltest? Wie Du versucht hast, ihm eine Nadel den Hals hinunterzuzwängen? Dein Bruder hat noch lange danach unter starken Halsschmerzen gelitten. Und an die Kinderfeste? Du konntest die Abende durchtanzen, ohne Dich um den so ängstlichen und schüchternen Jungen zu scheren. Otto – in den Du später so vernarrt warst – ach, als Du voller Beunruhigung, in Sorge, Dein Köpfchen über ihn neigtest – welch wundervolles Bild!«
    Würde sie, die große Schwester, jetzt, nahezu dreißig Jahre später, schmunzeln, wenn sie das läse? Oder würde sie, von plötzlichem Kummer erfüllt, weinen und sich ein wenig schämen, denn Otto war da ja schon nicht mehr am Leben? Beim Anblick von Emilies enggeschriebenen Zeilen müssen wieder alle Erinnerungen in ihr hochgestiegen sein, von Oxford und mehr noch von Radautz, davon, wie sie und Otto immerzu spielten, wie sie ihn piesackte, womöglich erneut von Eifersucht geplagt – aber diesmal auf Mama, wo er doch Mamas Goldjunge war. Das schwingt in Emilies Tagebuch deutlich mit, in dem von Fritz und der »Ernüchterung« nicht mehr die Rede ist und stattdessen die Kinder den Platz einnehmen und hier vor allem Ottos Gedankengänge von einer entzückten Mutter festgehalten werden. Es regnet und Otto fragt sich: » Wie viele Wasserhähne der liebe Gott da oben wohl
aufgedreht haben mag? « Und über Jesus: » Weshalb malen sie ihn denn so jung, wenn er doch so alt ist? «
    Erinnerte sie sich daran, wie sie auf Radautz' staubigen Straßen Christen und Juden spielten? Und wer welche Rolle einnahm? Erinnerte sie sich daran, wie sie ihn mit ihren ersten Lateinvokabeln beschimpfte, bis er vor Wut schäumte? Erinnerte sie sich – wieder schamerfüllt –, wie sie ihm die Finger abgeschnitten hatte? An das Blut, die entsetzliche Erkenntnis, die lange Heimfahrt, wie sie schließlich auf dem Karren im Heu einschläft, wie es regnet, wie die Straße voll flüchtender Menschen und Tiere ist? Der Krieg. Der ihre gesamte Kindheit dauern soll. Sie ist acht Jahre, als er beginnt, und zwölf, als er endet.
    1914
    Es ist doch wie verhext: Wo immer sie sich in Europa niederlassen, sind sie den Unbilden der historischen Witterung ausgesetzt. Als im August 1914 der Erste Weltkrieg wie eine ansteckende, tödliche Krankheit »ausbricht«, ist Fritz gerade mal einen Monat Eigentümer der Buchhandlung und die Familie eben erst nach Radautz gezogen. Von einem Tag auf den anderen ändert sich alles. In diesem entlegenen Winkel der Erde, in dem sie leben, überfällt sie der Krieg beinahe sofort; dort verläuft die Ostfront, und Czernowitz soll insgesamt dreimal von den Russen eingenommen werden.
    Dieser Krieg! Dieser elende Krieg! Dieser Krieg, in dem ausgerechnet die Männlichkeit eine so große Rolle spielt! Verflixt und zugenäht! Doch überlegt nur: Da erschießt ein junger Nationalist – ein Serbe – den Repräsentanten der Besatzungsmacht, den Habsburger Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sofia, als sie in ihrem offenen Wagen vergnügt winkend und protzend durch Sarajevos Straßen kutschieren. Unzählige Nationalisten säumen die Straße – und dieser eine durfte sich freuen. Wir schreiben den 28. Juni
1914, und einen Monat später erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, wohl wissend, dass Russland, dem sie darüber hinaus am 6. August den Krieg erklären, damit ebenfalls in die kriegerischen Auseinandersetzungen hineingezogen wird. Und Österreich-Ungarns Bündnispartner, das Deutsche Kaiserreich, das seit Jahren auf diesen Krieg hingearbeitet hat, erklärt am 1. August Russland und am 2. Frankreich den Krieg. Frankreich wiederum erklärt seinerseits am 4. August Deutschland den Krieg. Schon bald müssen auch Italien und Griechenland gegen die Mittelmächte in den Krieg eintreten und im August 1916 sogar König Carol I . von Rumänien. 1917 ist es für die USA an der Zeit, sich auf Seiten der Entente (Großbritannien, Frankreich und Russland) am Krieg zu beteiligen. Puha! Alle brüsten sich mit ihren feschen Uniformen, auf ihren blitzblanken Helmen erzittern munter und erbost die Haarbüsche, die Pferde wiehern – ja, das sind echte Kerle, die darauf brennen, sich in den Krieg zu stürzen, weil sie keine Ahnung

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