Meine Mutter, die Gräfin
Freundeskreis aufgeboten. Auch Bekannte und Professoren der Universität sagten zu Fritz' Gunsten aus, des Weiteren Mitglieder aus der orthodoxen Gemeinde und andere. Alles nahm ein glückliches Ende: Er wurde freigesprochen, die gegen Fritz vorgebrachten Zeugenaussagen waren – wie Emilie schreibt – »augenscheinlich von alkoholisierten, übelwollenden Individuen fingiert worden«, und er wurde in die Freiheit entlassen. »Erst als das Urteil verkündet wurde – unschuldig, frei – verlor ich die Fassung und brach in Tränen aus.«
»Für uns Kinder war die ganze Sache anfangs eine herrliche Sensation«, hielt meine Mutter in ihrer kurzen Geschichte über ein kleines Mädchen, das den Krieg erlebt, fest, »und es bestärkte uns darin, dass wir eben eine besondere Familie seien, denn gewöhnlichen Leuten pflegte so etwas ja nicht zu geschehen. Damit trösteten wir uns auch, wenn
sich die anderen Kinder in der Schule über uns lustig machten, weil wir anders angezogen waren und anders sprachen. Trotzdem wäre es uns lieber gewesen, so zu sein wie die anderen.«
So sah also die vielbeschworene Toleranz im multikulturellen Radautz aus, denke ich. Ihr Deutsch war anders, ihre Kleidung war anders; sie sahen nicht wie die kleinen jüdischen Kinder aus, nicht wie die kleinen Rumänen, nicht wie die Ukrainer. Bestimmt war es Emilies Bestreben gewesen, sie wie richtige kleine Deutsche – reichsdeutsche Kinder – auszustaffieren. Konnte Charlotte sich denn nicht mehr daran erinnern, an diese Sehnsucht, so zu sein wie die anderen, als sie ihrerseits darauf beharrte, Eili und mich – und das wohlgemerkt nach dem Zweiten Weltkrieg! – wie kleine deutsche Mädel herauszuputzen? Mitsamt geflochtenen, zu Ringellöckchen hochgesteckten Haaren mit roten Seidenrosetten und Schürzen über unseren karierten Röcken? Keines der anderen Mädchen in Hökarängen lief in den Fünfzigerjahren so herum. Doch wer weiß – vielleicht hat sie es ja für Emilie im Himmel getan: Hier hast du deine kleinen deutschen Enkelinnen, Mutsch .
Papa zu Felde – Mama steht ihren Mann
Nun ja, das Leben ging trotz allem wieder seinen gewohnten Gang, die Russen hatten sich zurückgezogen, auch wenn sich das Getöse noch im Hintergrund vernehmen ließ, der Krieg spielte sich nicht mehr unmittelbar auf ihrem Hinterhof ab, Lolotte wurde wieder gesund und wendete sich vermutlich erneut ihrer Schwärmerei für den hochmütigen Nachbarsjungen zu – aber Leni? Was war mit Leni? Erkrankte sie jetzt nicht an Kinderlähmung, was ihren zeitlebens leicht verkrüppelten rechten Arm zur Folge hatte? Warum verliert Emilie in ihren Erzählungen kein Wort darüber?
Emilie wurde wieder sie selbst, nachdem sie in eine fünftä
gige »Lethargie verfallen war«, und veranstaltete erneut Musikabende und Ausflüge, bis Fritz seiner inneren Stimme nicht länger Widerstand leisten konnte – er war doch ein deutscher Soldat! – und sich im November 1915 als Freiwilliger meldete. Er wurde in die berittene Infanterie aufgenommen, wo sie ihn mit offenen Armen empfangen haben dürften: Besaß er doch zweifellos eine gediegene Ausbildung – man denke nur an die Ulanenuniform und an Hannover. Und reiten konnte er schließlich auch!
Fritz in seiner Ulanenuniform.
Einzelheiten fehlen. Nahezu alle Papiere, die Fritz hätte hinterlassen können – abgesehen von seinen begonnenen Memoiren – existieren nicht mehr.
Da sehen wir Leni in Leipzig stehen, alt und müde, wie sie einen Brief nach dem anderen wegwirft – weg, weg, weg! Alle Briefe von Fritz an Emilie gehen dahin – weg damit! Aber Emilies Briefe bewahrt sie auf. Und Mamas Briefe. Mamas Erzählungen.
Nun, der Vater verschwindet – das hat seinen Reiz. Er verbleicht zu einem Foto auf dem Nachttisch neben dem Bett der Mutter, in das die drei Kinder jeden Morgen hineinkriechen und wo sie dann liegen, um sich Geschichten über ihren geliebten Papa auszumalen: Was er gerade macht, was
er machen würde, wenn er zu Hause wäre, und so weiter. Weihnachten 1915 ist »ihre Freude getrübt«: Sie feiern mit ein paar Gehilfen und drei Soldaten, die auf der Straße gestanden und einen sehnsuchtsvollen Blick in das traute Heim gewagt hatten. Otto, der Junge, bekommt einen Baukasten, Zinnsoldaten und einen Fußball, eine kleine Spielzeugdruckerei und ein Buch. Und die Mädchen bekommen jeweils eine große und eine kleine Puppe, eine gemeinsame Puppenstube samt winzigen Stühlen und Tischen und dann noch Bücher,
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