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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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köstlich! Wohl der liebevollste, den ich in zehn Jahren Ehe an ihm gesehen habe – nach der ersten Verblüffung, natürlich.«

    »Natürlich.« Da steht sie, die ganze Familie, im Krankensaal. Auf der Aufnahme sieht es so aus, als wäre die Zeit für einen Moment stehen geblieben, als verharrten sie alle wie erstarrt in diesem Augenblick. Als seien sie alle in ihrer eigenen, entrückten Welt gefangen – Otto, Emilie und Lottie mit träumerischem, ins Innere gekehrtem Blick; Leni, wie üblich leicht misstrauisch und außen vor und dann Fritz mit weit aufgerissenen Augen – und einem fast grimmig zu nennenden Blick. Oder zumindest streng. Aber vielleicht war er ja auch nur glücklich und bemühte sich, einen männlich-stolzen Anschein zu erwecken?

    Die Heimreise sollte lang und dramatisch werden: »Südwärts waren die Züge fast leer, nur die nach Wien waren überfüllt. Die Gepäckwagen waren proppevoll mit Menschen, Tieren, Gepäck und Kochgeschirr – alles ein heilloses Durcheinander. Man musste schließlich darauf gefasst sein, länger als eine Woche statt der üblichen 34 Stunden unterwegs zu sein. Nur die israelische Bevölkerung (sic) und die österreichische Beamtenschaft waren unruhig, da man die Ankunft der Russen befürchtete.«

    Familie Schledt anlässlich des Krankenbesuchs bei Fritz in Glogau.

    Zu Pfingsten fuhren Emilie und die drei Kinder zum Essen und Feiern aufs Land, in ein Dorf mit einer deutsch-evangelischen Dorfgemeinschaft, wo »unser Butter- und Eierbauer« wohnte. Und das war wundervoll: Es gab Hühnersuppe mit Klößen, zum Nachtisch Torte, zum Kaffee Stollen – und Stachelbeer- und Käsestrudel mit ganz vielen Rosinen. Danach ging Emilie einen »Reichsdeutschen« besuchen, der früher einmal Tierbändiger bei Hagenbeck in Hamburg gewesen war und später Baptistenpastor einer kleinen Gemeinde in der Bukowina wurde. Das allerdings gehört gar nicht zur Geschichte. Denn kaum war Emilie bei ihm eingetroffen, wurde sie auch schon wieder zurückgerufen: Drei Fin
ger von Ottos rechter Hand waren in einer Häckselmaschine abgeschnitten worden. In Lotties Erzählung handelt es sich dagegen bloß um einen Finger, und alles ist ihre Schuld:

    »Nachmittags spielten wir in der Scheune an der Häckselmaschine. Otto, mein Bruder, saß oben und untersuchte die Messer, ich war unten und spielte am Rad, mit dem die Messer in Bewegung gesetzt werden. Auf einmal hatte Otto seinen Finger zwischen den Messern, während ich noch drehte: Er wurde mittendurch geschnitten. Ich hatte zwar gesehen, dass sein Finger drin gewesen war, hatte aber trotzdem gedreht. Jetzt wurde ich von einer glühenden Verzweiflung gepackt und raste schreiend durchs ganze Dorf, um Mama zu suchen.«

    Sie hatte es gesehen – und doch gedreht. Fasziniert, verlockt – zu spät. Arme Lottie, armer Otto, verzweifelte Emilie! Leni stand bestimmt auch irgendwo mit großen, ängstlichen Augen da: Was ist denn bloß passiert? Die acht Kilometer bis nach Hause gestalteten sich zu einem Albtraum – es regnete, Ottos Finger waren nur provisorisch zusammengeflickt und Emilie hielt unentwegt seine Hand hoch, damit er nicht noch mehr Blut verlor (aus Mamas Erzählung kann man Emilies Stimme raushören: Hatten diese dummen Bauern doch Ottos Hand einfach in einen Eimer mit Kaltwasser getaucht, sodass er noch mehr Blut verlor!), der ungefederte Karren schaukelte gemächlich vorwärts und die Mädchen lagen tief verborgen im Heu, als die Russen kamen:

    »Die Russen nahten [sie kamen im Frühjahr 1916]. Zwei kleinrussische Dörfer, darunter Fontina Alba [heute Bila Krynyzja/Ukraine], wo es eine wundervolle, vom Zaren gestiftete goldene Kirche gab, um die sich die ganze ruthenische Bevölkerung scharte, wurden geräumt. Die armen
Leute konnten nur das mitnehmen, was sie in aller Eile auf ihren Wagen zu verstauen vermochten, die sie nach Ungarn brachten – wo sie ihre russischen Brüder nicht ›in Beunruhigung versetzen konnten‹. Die Hühner gackerten, die Kühe brüllten, die Ziegen meckerten, die Schweine grunzten, und alle wurden sie unter strömendem Regen die Straße – man konnte die Landstraße kaum noch erkennen – vorwärtsgetrieben. Die armen vertriebenen Bauern blockierten sie mit ihrem Auszug, und auch einen Großteil der seichten Wiesen. Und es regnete und regnete ohne Unterlass; der Weg war so durchweicht, dass viele Familien an den Straßenrändern lagerten, und da sie keine Zeltbahnen besaßen, unter denen sie Schutz suchen

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