Meine Mutter, die Gräfin
wenn sie um etwas bitten will oder mithilfe ihres Charmes die Erlaubnis für eines ihrer unzähligen Vorhaben von den russischen Offizieren einholen will, die natürlich alle Französisch sprachen (z.B. die Buchhandlung geöffnet zu lassen, Likör und Seife herstellen zu dürfen, Folianten aufzukaufen, Mehl zum Brotbacken einzukaufen und Brot zu verkaufen – ja, was sie nicht alles machte!). Aber sie unterstützt die Mittelmächte; die Entente-Mächte sind, so Emilie, »unsere Feinde«. Der deutsche Mut, der deutsche Fleiß, die Bildung und die Standhaftigkeit der Deutschen – das alles vergöttert sie ebenso wie die Ideale, an denen sie sich selbst misst. Vielleicht hat sie ja den Ehrgeiz, genauso streng wie Fritz' alte Mutter zu werden, der Dame mit dem Gesicht aus Stahl, deren Züge sich in dem verkniffenen Gesichtsausdruck Ottos wiederspiegelten. Dieses Streben ist aus all ihren Erzählungen, die die Kriegsjahre schildern, deutlich herauszuhören: Ich hatte keine Angst, ich nahm die Kaffeekanne, ging hinaus und brachte ihnen Kaffee, ich lachte ihnen geradewegs ins Gesicht, ich gab ihm eine Ohrfeige, ich habe mir nicht die Haare gerauft …
In den Zeiten, in denen sich der Krieg weiter entfernt abspielte und der Alltag nicht aus Chaos, Plünderungen und Aufregungen bestand, war die Radautzer Buchhandlung wohl sogar so etwas wie eine kleine internationale Begegnungsstätte. Die russischen Truppen erhielten ja von den franzö
sischen Luftstreitkräften Unterstützung, und auch britische Soldaten hielten sich in Radautz auf. »Sie« – d.h. die Offiziere – »trafen sich in der Buchhandlung, die so zu einem Zentrum des kulturellen Austausches, einer Art Salon avancierte«, schreibt Emilie. Und sie mittendrin als der strahlende Mittelpunkt? Die charmante Buchhändlerin aus Radautz, habt ihr schon von ihr gehört? Die französischen Flieger versorgen sie mit französischen Zeitungen, die Briten mit englischen. Und sie tritt wiederum als eine Art Kulturvermittlerin auf – und macht die Offiziere u.a. mit dem deutschen Bildungsgut und deutscher Kunst vertraut. »Meine Franzosen« staunten nicht schlecht: »Und dieses Volk nennen wir Barbaren; dieses Volk, das uns in so vielem überlegen ist, das so arbeiten kann!«
Natürlich prägte dieses idealisierte Deutschenbild – das ja vielleicht auch als eine Form der Abgrenzung von der dominanten jüdischen Kultur in der Gesellschaft fungierte – die drei Kinder. Für Lottie besaß alles Deutsche nahezu etwas Göttliches:
»In Glogau erlebte ich meine erste große Enttäuschung. Da wir in Österreich lebten und keine anderen Deutschen kannten [ihr kanntet keine anderen Deutschen?, denke ich erstaunt], schwebten sie mir als vollkommene, edle Gestalten vor, die fast nicht von dieser Welt waren. Gestalten, an die ich fest glaubte und die ich im Laufe der Zeit mit immer besseren und schöneren Eigenschaften ausschmückte. Nun hatte man mir Murmeln geschenkt und ich spielte, zusammen mit einem kleinen Jungen, damit auf der Straße. Plötzlich beanspruchte er sie unter irgendeinem Vorwand für sich und rannte mit seiner Beute davon. Genau, Beute – heulend lief ich nach Hause. Nicht wegen der Murmeln, sondern weil sich eine meiner deutschen Heldengestalten als ein ganz gewöhnlicher Dieb ent
puppt hatte! Seither konnte ich nie mehr felsenfest an etwas glauben.«
Sie waren besser als die Juden, besser als die Rumänen. Von den Russen ganz zu schweigen – oder, nein, abgesehen von ihren Militärärzten und Offizieren, natürlich. Aber was war mit den Ungarn? Oder den Österreichern? Ich habe guten Grund zu der Annahme, dass Emilie sich – oder sie, »wir Schledts« – als von besonderer und feinerer Gattung, als »eine Klasse für sich« verstand. Man kann sich fragen, wie diese Gattung mit ihrem Selbstbild umging, als sich der Krieg seinem Ende näherte, als das stolze Deutschland kapitulieren musste und das große Habsburger Reich zerfiel – von dem sie immerhin ein Teil waren. Aber vielleicht war das nicht die Zeit für Fragen? Die Gegenwart wartete zweifelsohne mit viel handfesteren Problemen auf. Jetzt sollte es nur noch wenige Wochen dauern, bis die kleine Enklave von Rumänien annektiert wurde – jetzt, im Herbst 1918. Nun hieß es vor allem, über die Runden zu kommen und auf sein Haus Acht zu geben.
1918
Und damit war sie ganz auf sich allein gestellt. Emilies Briefe an Fritz sind ja noch erhalten, von Leni liebevoll gehegt und gepflegt, die sich
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