Meine Mutter, die Gräfin
weitaus menschlicheren, furchtsameren, verzweifelteren und hoffnungsloseren Eindruck. Es passierte schließlich »jetzt« und wolle und wolle einfach nicht aufhören, und wann, ja, wann werde dieses Elend endlich ein Ende haben? Im November 1916 bricht sie zusammen. Von niemandem ein Lebenszeichen – monatelang nicht, weder von ihrer Mutter noch von ihrem Ehemann. Nichts und niemand lasse von sich hören! Nichts anderes als Alleinsein und dazu diese Finsternis – denn es gäbe kein Licht, kein Öl, keine Kerzen, kein Holz. Die Abende zögen sich endlos lange hin; der Ofen, ja der Ofen spende zwar Licht, aber wie lange werde das Holz noch reichen? Man könne abends nicht arbeiten, weil das Licht zu spärlich sei, und sich schlafen zu legen sei obendrein das Schlimmste, an Schlaf sei ja überhaupt nicht zu denken, und man läge stundenlang wach. Stunden, die zäh und langsam verrännen und in denen mahlende Gedanken einen peinigten, auf einen einhämmerten und -schlügen und einem alle möglichen Wege und Unwegbarkeiten aufzeigten; man wende sich um, ja, bewege sich rastlos hin und her, fände keine Ruh, keinen Schlaf, keine Erquickung:
»Und wenn die nicht enden wollende Nacht dann endlich vorüber ist, steht man mit erlahmter Energie auf, und das Tag für Tag. Draußen der Feind, immer nur der Feind. Soldaten exerzieren, spielen Musik – Gott sei Dank unsere deutsche Musik! – denn auf den Straßen und im Ge
schäft hört man immer nur die russische Sprache; allmählich lerne ich sie. Und jetzt sind neue Offiziere gekommen, kleine Jungs, die noch keine Erziehung genossen haben und die sich weiß Gott was einbilden: ›Ich bin schließlich ein russischer Offizier!‹, brüsten sie sich stolz und benehmen sich wie die Flegel und fordern Einquartierung, Licht und Heizung – und das alles umsonst. Dreimal hatte ich schon das Vergnügen, drei Zimmer und die Küche abgeben zu müssen und in einem Zimmer essen, schlafen, arbeiten und Besucher empfangen zu müssen, die immer im unerquicklichsten Moment vor der Tür stehen. Und so leben wir alle Tage. Die Kinder haben, Gott sei Lob und Dank, ihre regelmäßigen Beschäftigungen und fügen sich. Ich weiß wirklich nicht, wo ich noch die Ruhe und die Geduld hernehme, sie zu unterrichten. Aber es geht und es ist ein Segen, sonst würden sie noch ganz verkommen.«
Überall Kriegsopfer, die Häuser werden zu Krankensälen umfunktioniert. Emilie hat sich eines jungen Helden angenommen. Eines deutschen Soldaten, der immerzu seinen Faust bei sich trägt, sodass der schon ganz blutbefleckt ist. »Er hat mir aus seiner Brusttasche seinen letzten Lohn gegeben – einen blutdurchtränkten Fünfmarkschein –, damit ich ihn nach Kriegsschluss an seine Familie schicke. Wann gibt es endlich Frieden? «
Aber das soll noch dauern – soll noch viel zu lange dauern. Im Frühjahr 1917 spitzte sich mit der Russischen Revolution die Situation erneut zu, anstatt sich zu entspannen – Sdrastwujti Swoboda! – Lang lebe die Freiheit!
1917
Freiheit! Aber was sie damit anfangen sollten, wussten sie nicht. Erneut sehen wir mit Emilies kritischem Kleinbürgerblick – hinab auf den Pöbel:
»Damit wussten die Soldaten absolut nichts anzufangen. Zuerst wollten sie alles, was ihnen gefiel, umsonst haben. Kamen auch in die Buchhandlung und wollten Geigen und Bücher mit schönen Einbänden – natürlich umsonst, lang lebe die Freiheit! Als ich ihnen erklärte, dass für mich die Freiheit auch lebte und ich meine Sachen behalten wollte, da nickten sie verständnisvoll und gingen. Dann fingen sie an, die Bücher der verschiedenen Ämter, die sie in den Archiven der Behörden aufgetan hatten, als Altpapier zu verkaufen. Die jüdischen Geschäfte fürchteten, sich durch den Ankauf dieser Akten in Verruf zu bringen, ich dagegen kaufte sie und ließ durch die Soldaten verkünden, dass ich alle Bücher – auch alte – abnehmen würde. Daraufhin wurden riesige Folianten aus der Bezirkshauptmannschaft, dem Gericht und aus Privatbibliotheken herbeigeschleppt. Ich kaufte und kaufte, bis sie sich in meinem Hinterzimmer zu immer höheren Stapeln auftürmten. Ich kaufte billig. […] Als die Russen abgezogen waren, ging ich zu den Behörden und meldete meine Einkäufe. Man war sehr froh und dankbar und sagte, man wünschte, dass andere Personen ebenso wie ich gehandelt hätten. […]
Die Soldaten gewöhnten sich an ihre Freiheiten und verweigerten ihren Vorgesetzten immer häufiger den Gehorsam.
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