Meine Mutter, die Gräfin
Die Zivilbevölkerung ließen sie in Ruhe. Aber wie oft habe ich nicht trotzdem gezittert, obwohl ich vor wirklichen Gefahren keine Angst kenne. Doch ihre unzufriedenen Mienen waren wirklich nicht sonderlich vertrauenerweckend. Einmal ging es wirklich ganz bedroh
lich zu. Meine Buchhandlung befand sich im Rathausgebäude, vis-à-vis zur Bezirkshauptmannschaft, wo die Soldaten logierten, bevor sie an die Front, nach Kirlibaba marschieren mussten – ›dem Tode entgegen‹. Sie kamen die Treppe hinunter und sammelten sich, stellten sich in Reih und Glied in Zweierreihen links und rechts auf den Trottoiren auf, setzten sich auf ihre Tornister und warteten – ohne auch nur ein Wort zu sagen. Eine ganze Kompanie. Unheimlich war das. Dann kamen die Offiziere und sprachen zu ihnen: ›Kameraden, wir wollen marschieren, auf und vorwärts!‹ Keiner der Männer rührte sich. Wieder eine Offiziersstimme: ‹Freunde, Kameraden, hört auf mich, kommt mit!‹ Lange erfolgte keine Antwort, bis schließlich ein Soldat mit einer roten Binde am Arm erklärte, dass seine Freunde nicht gedächten, mit derartigem Schuhwerk zu marschieren. Wenn sie schon marschieren sollten, dann verlangten sie nach anständigen Schuhen. Er trat einen Schritt zurück. Mit russischem Text wurde die Marseillaise gesungen – dann breitete sich erneut Stille aus, eine unheimliche Stille. Nach zwei Stunden trafen die Schuhe ein. Sie wurden verteilt, doch keiner der Soldaten zog sie an, stattdessen hängten sie sie nur über die Schultern. Endlich, endlich machten sie sich auf den Weg; die Offiziere an der Spitze. Eine Stunde darauf drangen Schüsse an unser Ohr, und eine weitere Stunde später kehrten die Soldaten zurück – ohne Offiziere. In jener Nacht hab ich kein Auge zugetan.«
Aber bevor im Juli 1917 die Russen verschwanden – und diesmal endgültig –, musste Emilie eine ordentliche Plünderung ihrer Buchhandlung erleben, auch wenn sie offenbar nicht das Hinterzimmer entdeckten. Die Schaufenster wurden jedoch zertrümmert, die Schreibtischschubladen herausgerissen und dafür verwendet, das Diebesgut wegzutragen: Das
feine österreichische Papier, die Bleistifte, die Stahlfedern, all die wundervollen Zigeunergeigen und Musikinstrumente, Tinte und so weiter. Anderes war in Stücke zerschlagen und mit Dreck besudelt worden: Grammophonplatten, leere Parfümflakons – »sie kippten das Eau de Cologne wie Schnaps in sich hinein« –, Bücher. Alles war ein einziges, wildes Durcheinander. »Schön sieht anders aus«, wie Emilie es verdrossen ausdrückte, bevor sie sich ans Aufräumen machte. Und alle halfen mit – wenngleich sie (wie sie glaubte) ein wenig enttäuscht davon gewesen seien, dass sie sich nicht auf den Boden geworfen habe, sich die Haare gerauft und an ihrer Kleidung gezerrt habe, wie ihre jüdischen Nachbarn es getan hätten (obwohl sie gar nichts verloren hätten), und wie diese aufgeschrien habe: »Was für Zeiten! Was für Zeiten!« Aber nicht doch sie. Nein, sie habe ihnen geradewegs ins Gesicht gelacht und geantwortet: »Gott sei Dank, dass wir gesund sind, es könnte schlimmer sein, alles geht vorüber. Tout passe .« Ja, Emilie, ich kann deine Stimme hinter Mamas keckem »Make the best of it, Yvonne!« hören. Make the best of it selbst, hab ich gebrummt, und das, wo ich doch viel mehr dazu neige zu seufzen, »Was für Zeiten! Was für Zeiten!«
Das Deutsche
Als Emilie Fritz heiratet, wird sie nicht nur seine Ehefrau, sie wird auch Deutsche. Sie, mit ihrem lebhaften französischen Temperament, wird deutscher als irgendjemand sonst. Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt. – »Unsere Musik!« »Unsere Soldaten!« – Die deutsche Sprache allerdings geht ihr nicht so leicht von der Zunge, wie sie es sich wünschen würde. Fritz beklagt sich auch über ihre auf Deutsch geschriebenen Briefe, die sie ihm mit der Feldpost schickt, und bittet sie, ihm doch lieber wieder auf Französisch zu schreiben. Und natürlich gehorcht sie: »Ich beuge
mich Deinem Wunsch, Dir meine Neuigkeiten auf Französisch zu schreiben. Das ist viel, viel besser, denn ich bin immer so müde, dass mir die deutschen Worte nur schwer über die Lippen kommen wollen – als kämen sie auf Krücken daher.«
Der Krieg scheint bei ihr keinen Konflikt zwischen dem Französischen und dem Deutschen zu verursachen, andererseits stammte sie ja auch aus der neutralen Schweiz. Ihre Muttersprache verwendet sie, um sich Vorteile zu verschaffen –
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