Meine Mutter, die Gräfin
(mehr dazu in Kapitel 7). Da war sie fünfzehn. Und in dieser Kurzbiografie führt sie noch etwas auf, von dem ich vorher noch nichts wusste: »Als ich sechzehn war, wurde ich für ein Jahr in ein Weimarer Pensionat geschickt, um meine Kenntnisse der modernen Sprachen zu vervollkommnen.«
»Diese Spießbürger«, wird der gelangweilte sowjetische Beamte vielleicht vor sich hingebrummt haben, als er ihren Bericht durchlas. »Die können sich das natürlich erlauben!«
Was aber, wenn sie schwanger war?, schießt mir durch den Kopf – und sie deshalb weggeschickt wurde? Eine gängige Lösung. Das Pensionat im Ausland … Abtreibung? Oder das Kind zur Adoption freigegeben?
Ach was. Bestimmt war es so, wie sie es gesagt hat – dass sie dort Sprachen lernte. Vielleicht hatte Emilie ihr das eingeschärft, so wie Mama es auch bei mir getan hatte – dass sie unbedingt ihre Sprachkenntnisse »vervollkommnen« müsse, wo sie ihr doch schon auf dem Silbertablett präsentiert wurden: Deutsch, Französisch und Englisch. Wo sie doch so sprachbegabt war – phänomenal darin gewesen sei, Dialekte nachzuahmen, wie Frank Thiess später erwähnte. Womöglich besagt das schlicht und einfach nur, dass sie jetzt – nach dem Krieg – gut situiert sind und für ihre Tochter nur das Beste wollen. Eine klassische Bildungsreise, das ist alles. Oder?
Oder war das eine Möglichkeit, um von zu Hause wegzukommen? Weg. Einfach weg davon, um den Tisch oder in den Keller der Buchhandlung gejagt zu werden? Eine widerliche Vorstellung. Mama?!
Eine andere Möglichkeit, dem Vater zu entkommen, bot sich vielleicht auch durch andere Männer? Erneut hole ich ihre Geburtsurkunde raus; sie droht schon in Stücke zu zerfallen. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie im Juni 1923 ausgestellt worden ist – als sie siebzehn war. Weshalb benötigte sie eine Geburtsurkunde, die sie ihr auch noch nachschicken ließen? Weil sie sich verlobt hatte?
Ihre erste Verlobung. Denn jetzt lassen sich aus diesem Spekulationsgemisch, diesem undurchsichtigen Gebräu, wieder etwas mehr Fakten herausfiltern. Denn daran können
wir beide, Eili und ich, uns noch erinnern – an die Geschichte von ihrer frühen Verlobung. Mit einem älteren Mann, einem Professor.
»Hat Mama das mal erzählt?«, bohre ich nach.
»Nein, war das nicht Leni?«
Aber das glaube wiederum ich nicht. Mein Gedächtnis sagt mir, dass sie uns das selbst erzählt hat, und dass das auch der Grund dafür gewesen war, dass sie die Schule verlassen hat. Ein Stück Sittengeschichte. Aber verlobt mit wem? Mit wem?
Und da finde ich plötzlich ihre Aufzeichnungen, eine Art autobiografische Skizze: Zwei kleine, mit einer Stecknadel zusammengeheftete Zettel. An der Nadel haftet etwas Rost; ich ziehe sie heraus. Und sehe kurze, punktuell aufgeführte Notizen und Namen – sie listet ihr Leben auf. Vermutlich 1933, nach ihrer Flucht aus Deutschland:
1906-1914. I . Elternhaus und frühe Kindheit
1914-1919. II . Krieg. Schule und erster Konflikt
1919-1926. III . Flegeljahre, Mama weg – Papa – Professor – Pensionat – [unleserliche Worte] – Tanz – Kleinstadtgefühl.
Wie passt das zusammen? Der erste Konflikt – mit wem ? Will sie selbst die Schule verlassen? Gibt es Scherereien? Das Wort Flegeljahre lässt darauf schließen. Also kein Opfer. Aber was dann? Mama weg , und dann folgt die Aufzählung Papa, Professor, Pensionat . Vielleicht reist Emilie ja in die Schweiz – und die Kinder bleiben mit ihrem Vater allein zu Hause? Mama ist weg, und sie nimmt die Gelegenheit wahr, sich zu verloben – nur so zum Spaß? Mit einem von Vatis Freunden? Einem Professor? Oder meint ihr Papa, dass sie sich mit einem Professor verloben soll? Ist gut fürs Geschäft? Und dann kommt Emilie wieder heim, macht diesen Plänen ein
Ende und schickt sie in ein Pensionat, wo sie mit Tanz und Kleinstadtleben in Berührung kommt? Doch dann stoße ich auf diese eigenartige Aufnahme:
Die junge Charlotte mit ihrem Verlobten im Kreis der Familie.
Da sitzt Emilie, starrt verbittert aus dem Fenster und weigert sich, in die Kamera zu gucken – wird sie von Fritz gehalten? Ihre drei Kinder sind um sie herum versammelt. Otto starrt solidarisch in dieselbe Richtung wie sie. Leni, mit dicken Zöpfen, richtet ihren Blick in die entgegengesetzte Richtung; auch er trifft nicht den des Fotografen. Und schließlich Charlotte, Lottie, Lolotte – in eine Art Schaukelstuhl gesunken, nein, fast von dem Mann, der stolz den dominanten
Weitere Kostenlose Bücher