Meine Mutter, die Gräfin
wieder nach Hause gefahren ist, schreibt einer ihrer Freunde, dass jetzt, ja jetzt, der herrliche Frühling naht und dann der Sommer kommt und dann, ja dann, Schledtchen , dann werden wir Tennis spielen und schwimmen und, ach,
wir werden Dich vermissen! Wer soll denn jetzt vom höchsten Sprungbrett springen?
Ich muss meine kettenrauchende Großstadtmama, die weder Fahrrad fahren noch Ski laufen konnte, beiseiteschieben. Sie verdeckt das Bild der jungen Frau, die das Schwimmen, Springen und Tanzen liebt. Sie geht mit der Zeit. Das ist modern. Schlankheit, Sportlichkeit, weibliche Emanzipation ist die Losung.
Aber diese ganzen Bücher? Haben sie denn nicht die Lust geweckt, selbst zu schreiben? Sie begegnet den Autoren ihrer Zeit, sie liest, sie denkt. Selbst? Wie selbstständig kann man überhaupt denken – damals wie heute? Nachdem sie zuerst Papa Fritz' Philosophie gelauscht hat, von der ich mir kein Bild machen kann, die aber irgendetwas mit Bildung und Kultur und einem gewissen Maß an Freisinnigkeit zu tun hatte. Und danach einem jungen Besserwisser nach dem anderen: attraktiven, gescheiten, poetischen, kecken jungen Männern – all jenen Jünglingen, die sich immer um sie scharen, wie auf allen Fotos so deutlich zu sehen ist. Männer, die Geschichten erzählen können und einem die Welt erklären. Wer liebt sie nicht?
In einem Brief an ihre Eltern erwähnt sie einen Besuch in Weimar, wo sie einen Vortrag von Spengler besucht hat. Jenem Oswald Spengler, der das sich (heute) hart an der Grenze zum Unlesbaren befindliche Jahrhundertwerk Der Untergang des Abendlandes verfasst hat – ein Werk seiner Zeit. Alle schienen es als eine Art Trostmittel, als eine durchschlagende Erklärung, als eine »Weltanschauung« zu benötigen – jene geistige Zutat, die in der abendländischen Gesellschaft der Zwanzigerjahre ein Muss gewesen zu sein scheint. Der erste Band kam 1918 heraus, der zweite 1922, und im Jahr darauf wurde erneut eine überarbeitete Version des ersten Bandes publiziert. Bis zum Jahr 1930 hatte sich dieser erste Band 65 000 Mal verkauft. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die
Auflagenhöhe nochmals an. Das Bedürfnis der Deutschen nach Trost nahm wahrlich nicht ab.
Was also sagt Spengler? Was kann sie angesprochen haben? Das Werk ist so schicksalsschwanger, dass man seine reine Freude daran haben kann – und handelt vom baldigen Untergang der Kultur des Abendlandes. Zugleich sollte man sich aber nicht zu sehr darüber ereifern, denn Spengler zufolge waren Hochkulturen so etwas wie lebendige Organismen, die geboren wurden und wieder starben und sich wie die Jahreszeiten gegenseitig ablösten. Und die tausendjährige Kultur des Abendlandes hing nun also am seidenen Faden – ein ziemlich tröstlicher Gedanke für eine Nation, die alles verliert. We'll all go together when we go . Was sollte einen stattdessen erwarten? Tja, was weiß ich, aber am Ende des Buches, auf Seite 552, lässt sich Folgendes lesen:
»Der Kreislauf der Naturerkenntnis des Abendlandes vollendet sich. Mit dem tiefen Skeptizismus dieser letzten Einsichten knüpft der Geist wieder an die Formen frühgotischer Religiosität an. Die anorganische, erkannte, zergliederte Umwelt, die Welt als Natur, als System ist zu einer reinen Sphäre funktionaler Zahlen vertieft worden. Wir hatten die Zahl als eines der ursprünglichsten Symbole jeder Kultur erkannt, und so folgt, dass der Weg zur reinen Zahl die Rückkehr des Wachseins zu seinem eigenen Geheimnis, die Offenbarung seiner eignen formalen Notwendigkeit ist. Am Ziele angelangt, enthüllt sich endlich das ungeheure, immer unsinnlicher, immer durchscheinender gewordene Gewebe, das die gesamte Naturwissenschaft umspinnt: Es ist nichts andres als die innere Struktur des wortgebundenen Verstehens, das den Augenschein zu überwinden, von ihm ›die Wahrheit‹ abzulösen glaubte.«
Berauschend, denke ich. Gerade dieses Gefühl, dass man zu verstehen glaubt, kann einen Reiz ausüben. Und weil man ahnt, dass es mit der Vernunft hier nicht so weit her ist, ist es wohl völlig legitim, dass man wenigstens das Gefühl hat, es zu begreifen. Soll ich das etwa so verstehen, dass da ein glänzendes Schmuckstück zum Vorschein kommt, sobald wir das Zeitalter der Vernunft abgeschüttelt haben? Die »reine Zahl«. Klingt nicht gut. Aber womöglich hat Lottie ihre spöttische Miene geglättet und sich berauschen lassen, wie so viele andere auch.
Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, dass Menschen, die in
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