Meine Mutter, die Gräfin
ihrem Leben so viel durchmachen mussten – und da denke ich nicht in erster Linie an sie persönlich, ich denke an die Deutschen und den Krieg und die Nachkriegszeit und die Inflation, an den Verlust von Würde und Geld usw. –, nur zwei Wege einschlagen können: den zynischen oder den romantischen Weg. Wobei der romantische sich seinerseits wieder in zwei Wege gabelt: In die Romantik der Gefühle und, wenn Spengler entschuldigt, die Romantik der Vernunft. Oder, wie Arthur Koestler einst schrieb, dass der Zeitgeist zwischen dem Yogi und dem Kommissar, zwischen Dionysos und Apoll, zwischen dem Rausch der Gefühle und dem Rausch der Vernunft pendele. Und Lottie scheint, wie so viele andere auch, mal den einen, mal den anderen und mal den dritten Weg entlanggetaumelt zu sein.
Das Bedürfnis nach einer Weltanschauung. Das Bedürfnis nach einer »Ganzheit«, schreibt Peter Gay. Die Sehnsucht nach einer »reinen, einer neuen Wahrheit« schreibt Ernst Toller. Jawohl, lasst uns auf Traditionen und Autoritäten pfeifen – nein, gebt uns lieber neue Autoritäten. So muss es sein: das Verlangen nach einer neuen Wahrheit, einer neuen Wahrheit.
Die »neue Frau«.
Kapitel 4
Die Gräfin
Berlin 1928-1931
»Entschuldigen Sie«, schreibt Alexander im November 1927 an Herrn Fritz Schledt, »ich hätte schon früher schreiben müssen, aber ich habe noch auf einen Briefe von daheim gewartet.« Der Graf hält um die Hand von Charlotte an, muss aber trotzdem noch die Zustimmung seines Vaters abwarten. Er – Alexander – kann sich schließlich noch an die Worte seines Vaters von damals erinnern, dass wir, wir Stenbocks und Fermors, ja, dass wir nicht einfach so nach Lust und Laune ehelichen können – auch wenn das gewiss vor den schweren Zeiten war. Doch jetzt sind neue Zeiten angebrochen, in denen der Mensch, der von den Überresten seines großen Reichtums lebt – den Schmuckstücken, die eines nach dem anderen verkauft werden – ja, in dem es ihm gestattet ist, die Heirat des Sohnes mit einer Buchhändlertochter gutzuheißen. Es hätte schlimmer sein können, mögen sie, die künftigen Schwiegereltern, vielleicht gedacht haben, es hätte immerhin auch eine Balletttänzerin sein können – oder eine Kommunistin.
»Entschuldigen Sie«, schreibt Alexander folglich:
»Ich bitte Sie hiermit um die Hand von Charlotte. Wir lieben uns beide sehr und haben die innere Gewissheit, dass wir füreinander bestimmt sind und zusammengehören. An das Heiraten kann zunächst natürlich noch nicht gedacht werden: Eine Stellung kann ich Lottie noch nicht bieten, doch hoffe ich, beizeiten eine entsprechen
de Position zu erlangen, um eine Frau ernähren zu können.«
»Aber«, so fährt er fort, »meine eigentliche Tätigkeit ist die Schriftstellerei. Im Frühjahr erscheint mein erstes Buch, und damit ist der Anfang getan.« Vom Schriftstellerdasein zu leben sei natürlich nicht ganz einfach, das leuchte ihm wohl ein, weshalb er auch versuchen werde, irgendwo Arbeit zu finden – er sei, das interessiere den Buchhändler vielleicht, in Hamburg zum Buchhändler ausgebildet worden.
Und durch Alexander erfahren wir auch, dass Fritz angeboten hat, für den künftigen Schwiegersohn eine Stelle in Rumänien besorgen zu wollen – sehr freundlich, aber das müsse er ablehnen – weshalb, erfahren wir nicht. Dagegen sei er sehr angetan von Fritz' unternehmerischem Wirken: eine Wanderbuchhandlung, die Vorträge und Theatervorstellungen arrangierte. Das sei ja was.
Sie ist ein Ding, über das sie – Vater und Verlobter – verhandeln. Und es ist eine Verhandlung ohne Komplikationen. Der Herr Papa ist vermutlich recht entzückt – ein Graf, ein Balte, ein Buchhändler und Schriftsteller – nicht übel. Sie ist unter der Haube – davon, dass sie Geld erhalten soll, um eine Ausbildung zur Gymnastiklehrerin zu machen, ist nicht mehr die Rede. Demnach kehrt Lottie also Silvester 1928 nach Radautz zurück, mit einem schönen Ring am Finger, wie ich annehme – ich habe ihn auf einer der Aufnahmen gesehen –, den es allerdings nicht mehr gibt. Vielleicht liegt er irgendwo vergessen in der Schublade eines Pfandleihers in Berlin oder sitzt am Finger einer anderen. Was weiß ich.
Stattdessen bewegt sie sich in der Frühlingssonne und zwischen den Schneewehen in der Stadt ihrer Kindheit, geht die langen, schmalen Straßen mit ihren niedrigen, kleinen einstöckigen Häusern mit Gärten entlang, in denen die Tomatenpflanzen im April noch gegen Frost
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