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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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abgedeckt sind, vor
bei am Deutschen Haus, an der Synagoge und am Rathaus, hilft ihrem Vater in der Buchhandlung und ihrer Mutter in der Küche und im Garten, verkehrt mit alten Freunden und läuft jeden Tag dem Briefträger entgegen, um zu sehen, ob sie Post bekommen hat; Antworten auf ihre eigenen Liebeserklärungen. Folgendermaßen lässt Stenbock das junge Paar in seinem unveröffentlichten Manuskript Mensch allein … ihre Liebe zueinander ausdrücken:

    »Allein und ganz durchtränkt von Dir bin ich«, schrieb sie – »das ist so unbeschreiblich, dass ich kaum atmen kann. Mit einem Gefühl, das sich nicht in Worte fassen lässt, denke ich an Dich, mit glühender Demut, jede Faser in mir fühlt Dich. Ich weine und lache und sehne mich – obwohl Dein Atem hier ist, Dein Herz, Dein Körper …«
     Er schrieb: »Wie sinnlos nur war mein Leben bis heute! Nun hat es den tiefsten Sinn, den man sich denken kann. Du bist alles! Für Dich allein lebe ich …«

    »Ich war verliebt, ungehemmt«, hält er distanzierter in seiner Autobiografie Der rote Graf fest, so, als ob er ein geringfügiges Verbrechen zugeben müsse.
    Im Frühjahr 1928 erscheint sein Buch. Da liegt es nun brandneu in den Schaufenstern der Buchhandlungen: Meine Erlebnisse als Bergarbeiter . Das Buch wird ein voller Erfolg; die erste Auflage mit 10 000 Exemplaren wird abverkauft und die Rezensionen sind voll des Lobes: »Ein Bericht der Wirklichkeit und eine Warnung der Wirklichkeit«, wie eine Zeitung schrieb.

    Und im Sommer kam er, der junge, gefeierte Autor, endlich in die Bukowina.

    Die versammelte Familie Schledt und Alexander (re.) 1928 – ihr letzter gemeinsamer Sommer.

    Da steht die versammelte Familie und nimmt ihn in Empfang; steht da auf dem Bahnsteig, während Lottie bis über beide Ohren strahlt – das tut sie doch sicherlich, oder? Und da, ja da steigt er endlich aus dem Zug – was, größer ist er nicht?, fährt es Emilie durch den Kopf. Ein richtiger Balte! Ein Aristokrat!, denkt Fritz entzückt.

    Und Fritz organisierte wohl so etwas wie eine Lesereise mit ihm: Im Auto eines deutschen Wurstfabrikhändlers fahren sie in den deutschsprachigen Gebieten der Bukowina umher, Fritz, Otto, Lottie – Leni? –, der Wurstfabrikhändler, um Tiereingeweide zu kaufen, und Alexander, um aus seinem neuen Buch zu lesen, während ihm die rumänische Staatspolizei Siguranza auf den Fersen ist und ihn wegen der Verbreitung von kommunistischer Propaganda ausweisen will. Otto aber rettet ihn, indem er behauptet, dass das, was Alexander lese, nicht seine eigene Meinung, sondern allein die Worte der Bergarbeiter seien. Und so fahren sie durch jüdische Dörfer und Kleinstädte; elendig wohnten sie, die Juden, waren aber sehr freundlich, wie er in seinen Memoiren schreibt – Männer in langen Kaftanen, mit bleichen Prophetengesichtern und langen Bärten.
    Es ist Lotties letzter Sommer in der Bukowina, ja, es ist überhaupt ihr letzter Sommer mit Mama, Papa, Leni und Otto. Da sitzen sie und ihr Verlobter nun auf einer Veranda in einer winzig kleinen Stadt in Osteuropa – einer Stadt, die nur schwer auf der Karte zu finden ist –, sitzen da in der müßigen Sommerhitze. Sie trägt eine ihrer schön bestickten rumänischen Blusen, beugt sich hinab, während er auf der anderen Seite – beobachtend, im Schatten – sitzt. Die beiden Verlobten rahmen die Freunde und Bekannten gleichsam ein; Menschen, die alle längst tot, aber in jenem Sommer 1928 noch so voller Leben sind.

    Graf Alexander Stenbock-Fermor mit seiner Verlobten, Fräulein Charlotte Schledt.
    Die Stadt der Städte
    Anfang Oktober 1928 treffen sie in Berlin ein – mit dem Auto, das Alexander entweder geliehen oder auf Ratenzahlung erstanden hatte und dessen Motor versagte. Aber sie kamen trotzdem an, und seht nur her: Da ist die Stadt, die Stadt der Städte – Berlin 1928. Sie kommen also an, bevor die große Depression die Welt erfasst und Not und Arbeitslosigkeit
um sich greifen, kommen, bevor die Braunhemden siegessicher durch Berlins Straßen marschieren – in der Wahl vom Mai 1928 hatte die kleine rechtsextremistische Partei nur 2,6 Prozent der Stimmen bekommen, während die Sozialdemokraten mit fast 30 Prozent ihr bestes Wahlergebnis zu Zeiten der Weimarer Republik erzielten. Und Alexander und sie kommen in eine richtige Großstadt, in eine Stadt, wie sie Lottie noch nie zuvor gesehen hat und in der sich über 100 000 Autos und Fahrräder und gelbe Straßenbahnen auf den Straßen

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