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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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und die Politiker die reinsten »Strolche« sind – so sagt man ja –, herrscht im Vergleich zu den unruhigen Nachkriegsjahren noch Ruhe
und Ordnung. Warum also warten, wo man doch (und das für immer) zusammengehört? Nein, jetzt wird Hochzeit gehalten!

    Charlotte Gräfin Stenbock-Fermor und Alexander Graf Stenbock-Fermor bei ihrer Hochzeit 1929.
    Und es wird eine stattliche Hochzeit. Alle sind sie gekommen und stehen Seite an Seite: Prinzessinnen und Grafen und Buchhändler. Schledts sind den ganzen weiten Weg bis nach Neustrelitz gereist. Da sieht man Emilie und da ist Fritz; Otto ist in Radautz geblieben und übermittele seine Glückwünsche: Jetzt wird seine geliebte Frau Schwester wohl etwas erwachsener und ernster werden – na, wenn das nicht nett von ihm war! Aber wo ist Leni? Ist sie auch nicht mitgekommen? Doch nein, da steht sie, ein bisschen außen vor, da am Rand. Und die Gäste schreiben zur Verewigung des Tages ihre Namen auf einen kräftigen Bogen Papier, und die frischgebackene junge Gräfin notiert ihren Namen zuoberst – zum ersten Mal unterschreibt sie als Charlotte Gräfin Stenbock-Fermor –, darunter setzen Fürstin Mary Kropotkin und Gräfin Marie Stenbock-Fermor ihre Namen und dann Margitta von Qvist, geborene Baronessa Maydell, und Friedrich von Schubert mit Frau, und dann, ja dann Fürstin Olga Kropotkin und Freda-Felicitas Winterfeldt-Menkin, ja, und auch Emilie schreibt ihren Namen – auf die Mitte des Bogens, vor Fritz' Namen, aber daneben –, ja, und da sind noch Onkel Otto aus Hamburg und dann noch zwei weitere kühne, stattliche Schriftzüge; schwer zu deuten sind sie, aber es waren gewiss feine Leute. Aber wo ist Leni? Hat sie sich aus dem Staub gemacht? Sich wie ein richtiges Landei gefühlt, nicht gewagt, den Mund aufzumachen, sodass mehr als ein Piepser über ihre Lippen kommt? Aber da ist sie ja – na, los doch, Leni, komm, unterschreib! Wovor versteckst du dich denn, Kindchen? Und schließlich entdecke ich ihre Unterschrift, da, ganz unten rechts: Geschwister – Leni Schledt. In dieser chiffrenartigen, deutschen Frakturschrift.
    »Diese Sache«
    Jetzt erst, jetzt, als ich über ihre Hochzeit schreibe, fallen mir in dem Chaos aus hinterlassenen Papieren, in die ich Ordnung zu bringen versuche, drei kleine Zettel in die Hände. Und jetzt liegen diese drei kleinen Zettel vor mir. Einer ist ein herausgerissenes Blatt aus Lenis Poesiealbum vom 28. März 1922, auf dem die große Schwester Lottie Folgendes geschrieben hat, bevor sie zum Sprachenlernen in das Pensionat nach Weimar aufbrach:
    »Der eine fragt: Was kommt danach?
    Der andre fragt nur: ist es recht?
    Und also unterscheidet sich
    Der Freie von dem Knecht.«

    Ein seltsames Gedicht (geschrieben von Theodor Storm) für eine kleine Schwester, nicht wahr? Wer von ihnen ist der Knecht, wer der Freie? Sind die Worte womöglich als eine unterschwellige Aufforderung zu verstehen? Ich fahre jetzt, Leni, sieh zu, dass du dich auch freistrampelst!
    Den anderen Zettel hat Leni selbst geschrieben – auf der einen Seite des Blattes steht ein Gedicht (in Frakturschrift natürlich), das ich gar nicht erst zu entziffern versuchen will. Ich drehe den Zettel um, was dort steht, kann ich leicht lesen – die Schrift ist groß und deutlich:
    Mensch lass mich in Ruh
    Mit Respekt
    Deine Tochter Leni

    Mein Bauch macht sich bemerkbar – ich krümme mich. Oh, verflixt, Leni, dabei hatte ich mir doch irgendwie schon zurechtgelegt, dass du dir alles nur ausgedacht hast, wie irgendein hysterischer und potentieller Freudpatient. Also stimmt es doch. Du liegst auf meinem Bett und erzählst mir davon,
du bewahrst Zettel auf, andere wirfst du weg. Ja, es ist eindeutig: Du willst nicht, dass das in Vergessenheit gerät. Ich soll hier davon erzählen, darf es nicht vergessen und unter den Tisch kehren. Es ist dein geheimer Auftrag an mich.
    Und da, ach nein, da liegt ein weiterer Zettel; eine Seite, herausgerissen aus demselben Poesiealbum, so wie Lotties Gedicht. Eine weitere geheime Botschaft, die die Zeit überdauert hat. Ganz oben steht die Adressatin: Leni. Und darunter, mit Tinte in gestochener Schönschrift:
    Mensch ärgere Dich nicht!
    Dein Vater
    27. März 1922

    Ich hole tief Luft. Was soll das bedeuten?! Warum schreibt er so was? Aber es ist gar nicht so, wie ich denke – das sei der Titel eines äußerst beliebten Gesellschaftsspiels, sagt Eili. Äußerst beliebt. Wurde 1914 erfunden und 60 Millionen Mal verkauft. Aha. Ich starre auf

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