Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
Vom Netzwerk:
die kleinen Zettel, die jahrzehntelang aufbewahrt wurden: Der eine fragt: Was kommt danach? Der andre fragt nur: ist es recht? Mensch lass mich in Ruh. Mit Respekt. Deine Tochter Leni. Mensch ärgere Dich nicht! Dein Vater. Ach was! Das ist doch nicht ernst gemeint!
    Oder? Oder ist das Fritz' Art, damit umzugehen, es mit Mensch ins Lächerliche zu ziehen, ihren Worten mit einem Witz die Schärfe zu nehmen?
    Und so zeigt das Bild eine neue Szene, wie auf einer Drehbühne: Lottie wird 1922 nach Weimar geschickt, damit sie ihrem Vater entkommt: Wer bleibt, ist die kleine Schwester, erst dreizehn, das neue Opfer. Lottie, die Geschändete, Leni, die Wehrhafte. Lottie, die wegfährt. Leni, die bleibt – Mamas wegen. Und Emilie weiß von nichts? Warum dann aber diese dunklen Ringe unter ihren Augen? Warum diese Zeilen von Verlaine:
    »So bewegt auf und ab
    Ein dunkler Wille
    Eine Wiege am Grab:
    Seid stille! Seid stille!«

    Leni, die buchstäblich ihre Zähne zusammenbeißt. Ihr Kiefer tritt ganz hart hervor, ihre Augen sind ganz dunkel. Lottie hingegen lächelt und tanzt, Lottie, die Liebreizende, Charismatische, die immer im Mittelpunkt steht, Lottie, die leichtsinnig mit allem umgeht. Vor allem mit sich selbst? Aber was weiß ich?!
    Berliner Leben – die Erste
    Das junge, frisch vermählte Paar geht auf Hochzeitsreise nach Hiddensee, wo sie Ernst Toller begegnen und die beiden Schriftsteller am Strand entlangspazieren und über Literatur und Politik diskutieren. Toller war entzückt darüber, dass Stenbock ein Gedicht von ihm in seinem Bergarbeiter-Buch zitiert hatte:
    »Ticktack der Morgen, ticktack der Mittag … ticktack
 der Abend …
    Einer ist Arm, einer ist Bein … Einer ist Hirn …
    Und die Seele, die Seele … ist tot …«

    Sie lauscht. Bewegt. Aufgebracht. Ernst Toller – der Sozialist und Kommunist, der 1919 eine der Führungsfiguren in der Münchner sozialistischen Räterepublik war, wie die Schriftsteller B. Traven und Gustav Landauer. Er erzählt davon, wie er geflüchtet ist, als alles aus dem Ruder lief, wie er verhaftet wurde, ins Gefängnis kam – erst 1925 wurde er wieder entlassen. Sie unterhalten sich über die Revolution und die Gewaltfrage. Ihr Stenbock, ihr Mann – ihr Graf – orientiert sich immer mehr nach links.

    Sie versucht im gleißenden Sonnenschein auf der Strandpromenade mit ihnen Schritt zu halten, fällt aber schon bald zurück und verlangsamt ihre Schritte – und sieht übers Meer. Sie möchte auch …

    Die frisch Vermählten – Sommer 1929.

    In Berlin mieten sie und Alexander eine möblierte Wohnung, im ersten Stock bei Frau von Zander in der Riehlstraße 11 in Charlottenburg. Eine feine Adresse in unmittelbarer Nähe des Kurfürstendamms mit seinen zahlreichen Boutiquen und Restaurants – den Versuchungen. Und Lottie bekommt eine bessere Stelle, hört bei Rudolf Lorentz auf und fängt als Stenografin – und dieses Mal gelingt es ihr, ihr Herzklopfen zu beherrschen – bei der Firma Ensoplatten-Import (G.m.b.H. Berlin W) an.
    Freiwilliger Stenbock erscheint und wird ebenfalls ein voller Erfolg. Ein neuer Remarque. Stenbock steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Er spricht im Rundfunk, macht Vortragsreisen und veröffentlicht Artikel, die Honorare fließen herein und das Geld zerfließt ihnen zwischen den Fingern, das hübsche Ehepaar Stenbock veranstaltet Feste und wird zu Festen eingeladen. In Berlin herrscht Highlife, und so gehen sie in Restaurants, ins Kino, ins Kabarett und ins Theater und sitzen im Zuschauerraum, als Brechts erste berühmte Inszenierung der Dreigroschenoper mit der schönen Carola Neher als Polly aufgeführt wird; Carola, deren späteres grausames Schicksal Lottie wundersamerweise erspart bleiben wird. Sie sehen Ferdinand Bruckners Die Verbrecher ,
Peter Martin Lampels Revolte im Erziehungshaus – die Avantgardisten, die Modernisten – und sie sind ein Teil dieser ewig schlaflosen, nervösen Metropole. Sie finden kein Ende – er findet kein Ende. Da – ist das nicht Ernst Jünger, da schau an, und da, der berühmte Autor Carl Haensel, und da, ja da der Pfarrer Dietrich Bonhoeffer (der während des Krieges im Widerstand gegen Hitler aktiv war). Und sie verbindet eine enge Freundschaft mit Frank Thiess und »seiner schönen blonden Frau Florence, einer Sängerin«.
    Dolly
    Ja, Frank Thiess. Der Schriftsteller. Damals umjubelt, heute nahezu unbekannt. Ein weißblonder, fast albinoblonder nordischer Typ. Er sieht wie ein kluges

Weitere Kostenlose Bücher