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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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drängen, wo die Spuren, die die gewaltsamen Aufstände hinterlassen haben, wie weggefegt sind, in eine Stadt, in der ein seltsames Netz unterirdischer Tunnel die verschiedenen Stadtteile mit ihrer U-Bahn vernetzt. Eine Stadt, in der man sich erstaunt das Modernste vom Modernen ansehen kann: neue, rechteckige Häuser mit Flachdächern, zahlreiche verführerische Lichtspielhäuser – es gab 400 an der Zahl, als sie dort eintraf –, Varietés, Cafés mit Telefon auf den Tischchen – aber, was machen die denn da, Alexander? –, Schaufenster mit bezaubernden Schaufensterpuppen, Vorbilder für die jungen Mädchen mit Kurzhaarfrisur und kurzen Röcken, kleinen dunkelroten Schmollmündern und großen, weit aufgerissenen Augen. Und unmittelbar daneben, völlig übergangslos, alte heruntergekommene Wohnviertel, Pferdedroschken und Juden in langen Kaftanen, die an das
Leben in der Bukowina erinnern; und alles vermischt sich mit den heiseren Stimmen der Zeitungsverkäufer und dem Geflüster der stark geschminkten, schön zurechtgemachten Damen – Ach Schatzi, komm doch mit . Und Lottie sieht und registriert alles mit ihren graublauen Augen unter ihren dunklen Augenbrauen.
    Eine Stadt voller junger, weiblicher Büroangestellter, junge Frauen mit einem eigenständigen Leben, selbstständige Frauen, die das Recht haben, zu wählen, zu arbeiten, zu lieben, wen sie wollen – oder?
    Und sie wird eine von ihnen. Die Anstellung beim Rudolf Lorentz Verlag in Charlottenburg, auf die sie sich Hoffnungen gemacht hatte, war zwar schon vergeben, als sie mit klopfendem Herzen dort vorstellig wurde, aber Herr Lorentz muss die junge Frau von oben bis unten in Augenschein genommen haben – die Kurzhaarfrisur, die gutsitzende Kleidung und die schmalen hochhackigen Schuhe, alles mit einer gewissen Eleganz getragen – und gesagt haben, dass sich bei ihnen bestimmt eine andere Stelle für sie finden ließe. Und so seien ihre Stenografiekenntnisse überprüft worden, und sie, ja sie habe aus lauter Nervosität Herzklopfen bekommen, sodass sie kein Wort mehr davon habe lesen können, aber sie würde in der kommenden Woche Bescheid bekommen, allerdings sei der Lohn niedrig – 175 Mark, aber der könne erhöht werden, wie er meinte. Ansonsten sei er sehr nett gewesen. »Ich glaube«, fährt sie in ihrem Brief an die Eltern fort, in dem sie fast atemlos drauflosplappert, als wollte sie die in Berlin herrschende Hetze wiedergeben, »dass ich mich sehr rasch einleben werde. Alles ist sehr elegant und alles furchtbar teuer.« Und sie bekam die Stelle als unterbezahlte Bürokraft beim Lorentz Verlag, und sie mieten sich ein Zimmer (wo weiß ich nicht) und ja – im Frühjahr 1929 macht sie eine Abtreibung. Bevor sie heiraten.
    Die Gräfin
    Jetzt schaue ich genauer hin. Ich fand immer, dass sie auf ihrem Hochzeitsfoto so lächerlich aussah, mit diesem für die Zeit typischen Schleier, der von einem um den Kopf befestigten Brautkranz gehalten wurde – für niemanden sonderlich kleidsam. Aber auf dem vergrößerten Foto sieht sie trotzdem recht hübsch aus.
    Er aber! Wie klein er ist – sie sind ja gleichgroß, das Gräflein und Mama. Meine Mutter ist eine Gräfin, habe ich erzählt, als ich klein war und wir im Cigarrvägen in Hökarängen wohnten, und die Kinder, die in Scharen die Mietshäuser bevölkerten, die Kinder mit ihren grauen Müttern, die sich in den Wohnungen versteckten und aus den Not leidenden Dörfern Norrlands kamen, sahen mich mit großen Augen an und hänselten mich, bis ich vor Zorn weinte, und da hänselten sie mich noch mehr, bis Eili eingriff und sich für mich mit ihnen prügelte.
    Die Hochzeit war für zwei Uhr am 6. Juni 1929 in Neustrelitz anberaumt, wo Graf und Gräfin Stenbock-Fermor ihr neues Auswandererdasein lebten. Vermutlich war Alexander der Ansicht gewesen, jetzt eine gewisse Stellung erreicht zu haben, die es ihm ermöglichte, eine Ehefrau zu versorgen. Sein Buch verkaufte sich gut und er arbeitete bereits an einem zweiten: Freiwilliger Stenbock , das von seiner Zeit als Weißgardist in Lettland handelte. Sein Freund Frank Thiess wird es später als »bestes Kriegsbuch« der Nachkriegszeit bezeichnen. Außerdem war er mittlerweile für verschiedene Zeitungen als Journalist tätig; vor allem schrieb er Fotoreportagen und Berichte aus Berlin. Noch ist also Sommer, und noch wird es mehrere Monate bis zum Börsenkrach in New York dauern, der jeden errungenen Wohlstand vernichtet. Und selbst wenn die Politik ein Witz

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