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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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seinen zahlreichen guten, oberflächlichen Freunden und Bekannten, die sie eines Sommers im Deutschland der frühen Dreißigerjahre in ihrem Sommer
haus überfallen, am Schreiben gehindert wird. Ins Haus am See strömen die jungen Damen, mit denen Hans lange Gespräche führt – ungefähr in demselben neckischen Stil wie in seinem Brief an Dolly. Seine weiblichen Bekannten haben ähnlich kurze Namen, fast so, als seien sie Hunde – Ronny, Cilly – Platz! Auch Baron Rautenfels mit seiner Gattin, Ferdinand und Erna (= Alexander und Charlotte) kommen auf ihrem Motorrad angebraust. Uneingeladen. Und hier sind sie, zuerst Ferdinand:

    »[…] ein Balte, der im ersten Weltkrieg alles verloren hat, lebt eigentlich nur davon, daß er durch seinen Charme und sein träges, feines Lächeln alle bezaubert. […] Er liebte ein deutsches Mädchen, Erna mit Namen, wirklich hübsch, eine lustige Person, freimütig und aufgeklärt. Er liebte sie auch noch, als sie einander heirateten. Auch sie liebte ihn, so gut es ging, jeder redete vom anderen nur das Beste, aber keiner dachte daran, daß es so etwas wie eine Pflicht der Selbsterhaltung aus eigenen Mitteln gibt. […] Erna arbeitete in einem Büro gegen ein geringes Salär, das die Eheleute nach beiläufiger Anzahlung auf die Miete meist in Kinobesuchen verbrauchten. Beide gingen leidenschaftlich gern in Lichtspielhäuser. Vor allem betrachteten sie mit Vergnügen schlechte Filme, deren Inhalt Ferdinand köstlich zu erzählen wußte.«

    Sie seien ein charmantes, lebensuntüchtiges Paar gewesen, das immer als letztes ging, selbst wenn das Gastgeberpaar schon demonstrativ gähnte und die kleine Erna gegen drei Uhr morgens ihren Ferdinand zum Gehen zu bewegen versuchte: »Ferdinand, wir müssen jetzt gehen! Wir sind schon wieder die letzten Gäste!« Er aber erwiderte nur lächelnd, dass der Abend so köstlich sei, dass er nicht gehen könne, oh, nur eine Stunde noch, und dann noch eine. Einmal, so Thiess,
sei Ferdinand die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag geblieben, bis die Gastgeber aus lauter Verzweiflung so getan hätten, als würden sie abreisen – während ihnen der unermüdliche Baron noch fast hinterhergewunken hätte – er da aber endlich abgereist sei.
    Und ständig hätten sie auf Pump gelebt. Ferdinand leiht sich schamlos Geld von seinem Freund Hans, was besonders peinlich wird, als sich herausstellt, dass das Motorrad noch gar nicht bezahlt ist – es war nur auf Ratenzahlung gekauft – und sie nicht einen Pfennig hatten. »Ferdinand lächelte verlegen: ›Ich weiß nicht, vielleicht hat Erna etwas da …‹ Erna sagte: ›Ich? Liebes Kind, du weißt, dass ich dir vor der Herreise meine letzten sechs Mark gegeben hatte.‹«
    Also leihen Gertie und Hans Ferdinand zweihundert Mark, und Erna kommt daraufhin mit einem alten Schmuckstück zu Gertie – einer alten, mit Türkisen besetzten Schnalle. »Es sei ein Erbstück der Familie und das Liebste, was sie im Augenblick besitze.« Und Gertie weint und Erna weint und kramt ihre Schätze heraus: Die Schnalle, einen Malachitring, ein goldenes Armband (ihr Geburtstagsgeschenk?) und eine schöne goldene Brosche, die ihrer Urgroßmutter gehört hatte. »Ich gebe euch gern alles«, sagt Erna, »bis wir das Geld zurückgezahlt haben. Es ist mir lieb, wenn ich weiß, ihr habt es; dann kann es Ferdinand nicht versetzen.«
    Neben ihrer Einstellung zu Geld – leichtsinnig, kindisch und verantwortungslos – karikierte Frank Thiess mit spitzer Feder ihre Einstellung zur Erotik, was natürlich zusammenhing, wie seine Leser wohl begriffen haben mögen – nun ja, ein wenig freizügig.
    Ferdinand tritt in den Hintergrund, Erna in den Vordergrund. Ein schlankes – ja fast knochiges Mädchen bzw. eine Frau, die halbnackt in so etwas wie einem Pyjama umherläuft und ständig flirtet und sich in den Vordergrund spielt:

    »Erna breitete verführerisch lächelnd ihre Arme aus, knipste auf spanisch mit den Fingern, als seien es Kastagnetten, und wiegte sich mit ein paar Tanzschritten in ihren knochigen Hüften. Es stand ihr ungut, obwohl sie mutmaßlich durch diese Bewegungen angenehme Empfindungen in den Männern zu erzeugen hoffte.«

    Ein Schweizer, ein »Wolf«, taucht in der Geschichte auf; ihn versucht Erna lüstern und unkultiviert, unmittelbar vor den Augen des Seufzer ausstoßenden Ferdinands zu verführen: »Da steht Erna. Sie ist vielleicht gar nicht schön, ich weiß nicht, aber sie hat's nun mal mit dem Flirt auf

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