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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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eingebildet habe, Bekannte aus der Bukowina zu sehen.«

    Anfang Juni bekommt sie frei, sodass sie und Alexander eine Kurzreise, »unsere zweite Hochzeitsreise«, nach Wien und Budapest machen können, den restlichen Sommer aber verbringt sie im heißen Berlin; ja, und was macht sie da? Sie geht nicht länger ins Theater, denn das ist zu teuer, und sie geht auch nicht allein ins Kino. Und Alexander wird sie erst im September wiedersehen. Was macht sie währenddessen? Mit wem trifft sie sich? Wer sind ihre Freunde? Abgesehen von Florence und Frank Thiess wären da natürlich ihre Freun
dinnen aus dem Büro – die Frau, mit der sie zu Grammophonmusik tanzt, ist Gisela von Dehn; die Gisela, die aus Estland stammte und Dr. rer. pol. und Chefsekretärin bei Philips Glühlampen war. Dann wäre da die Journalistin Margret Boveri, die später Weltruhm erlangen sollte, Annemarie Schwarzenbach, die sie dazu bringt, sich die Haare immer kürzer schneiden zu lassen und einen Anzug zu tragen, und schließlich das Ehepaar Winterfeldt, die auch auf ihrer Hochzeit waren und die sie mit Kleidung versorgten, die sie nur zu gut gebrauchen kann, muss sie doch irgendwie mit ihrem geringen Lohn über die Runden kommen.
    Hat sie schon damit begonnen, sich den kommunistischen, politischen Kreisen anzunähern? Nein, ich glaube noch nicht. Ihre Freunde aber finden sich unter den linksradikalen Schriftstellern und Schauspielern. Bist Du mir treu, Lott?, fragt Alexander sie vielleicht in seinen Briefen. Ist sie es? Der Aufnahme nach zu urteilen – von 1930 oder 1931 wohl – wird sie allen stereotypen Vorstellungen über das Berlin der Weimarer Republik und dem dort herrschenden unbeschwerten, dekadenten Lebenswandel gerecht: Seht doch, da steht sie mit dem einen Fuß auf dem Tisch neben dem Sektkübel, schön wie eine zweite Carmen in ihrem karierten Kleid, ihren großen Ohrringen und ihrem Hut; ihr zu Füßen ruht hingerissen der als römischer Kaiser kostümierte Schauspieler Hans Mayer-Hanno, und da, ach ja, da sitzt Helmut Herzfeld alias John Heartfield mit – ja, mit einer Frau oder einem Mann an seiner Seite? Und spielt das überhaupt irgendeine Rolle?
    Erotik und Politik, daraus speist sich der pulsierende Blutkreislauf der Stadt. Das macht heiß. »Die besten Kräfte sind ja links«, schreibt sie im Frühjahr 1930 nach Hause und erzählt von einer Kabarettvorstellung, auf der sie gewesen seien, und wie sie gelacht hätten!, denn alles habe ja eine kommunistische Tendenz besessen. »Interessant ist nur, dass die
äußere Rechte [Hitler, die Nationalsozialisten] und die Kommunisten fast dasselbe Programm haben«, führt sie unschuldsvoll aus. »Ich bin neugierig, wann es eine Entladung geben wird, denn der Hass gegen den Kapitalismus schwillt immer mehr an. Und die Zustände jetzt sind doch zu provisorisch, um Bestand zu haben.«
    Blutmai
    Vielleicht hatte sie ja angenommen, dass es in Berlin zu einer Entladung ähnlich wie der im Jahr zuvor am 1. Mai 1929 kommen würde. Als »Blutmai« wird er später in die Geschichte eingehen: 33 Tote – von Polizisten erschossen. 198 verletzte Zivilisten, 48 verletzte Polizisten. Auslöser für die Todesschüsse, Krawalle und Barrikaden in Wedding und Neukölln, Berlins Arbeitervierteln, war das von Berlins Polizeipräsident, dem Sozialdemokraten Karl Zörgiebel, für den 1. Mai verhängte Demonstrationsverbot, das Zusammenstöße zwischen dem RFB , dem Roten Frontkämpferbund der Kommunisten, und der an Stärke zunehmenden SA (Sturmabteilung) der Nazis verhindern sollte.
    Jetzt reicht's aber , müssen sie in der kommunistischen Parteiführung in Berlin gedacht haben: Uns wird verboten, am 1. Mai zu demonstrieren?! Am Tag der Arbeiter! Und das von Sozialdemokraten! Ha, jetzt zeigen diese Sozialfaschisten endlich ihr wahres Gesicht! Diese reaktionären Kapitalistenknechte! Na, denen werden wir's zeigen!

    An dieser Stelle hebe ich den Kopf. Draußen vor dem Fenster herrscht ebenfalls Frühling und Sonnenschein, und meine Gedanken schweifen ab ins Frühjahr 1968, das Frühjahr, an dem ich zum ersten Mal etwas über die neue »Strategie« und »Taktik« der Komintern gelesen habe, über den verheerenden linkssektiererischen Weg, den sie 1928 einschlugen, wodurch sie der kommunistischen Bewegung in Europa, vor
allem jedoch der in Deutschland, die Waffen aus der Hand rissen.
    Das Thema, das ich 1968 für meine Doktorarbeit gewählt hatte, war zweifellos passend: Die Kommunistische Partei Schwedens im

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