Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)
die reichste Stadt Deutschlands. Ja, ja! Deswegen gab es so viele Reklameschilder, sprich Werbeträger, und Dresdner Emailleschilder sind für einen Sammler der Oberknaller: Rügerhansi, Chlorodontfrau, Pfundsmolkerei, Braune-Brotfabrik, Ernemann-Kamera. Noch heute habe ich allerbeste Erinnerungen an die vielen Male, wenn ich losstiefelte zum Abschnobern. Einmal, ich hatte drei, vier Stunden »persönliche« Freizeit, war 22 Jahre alt und ging am Zelleschen Weg, wo heute die Landesbibliothek steht, »schauen«, denn in den Gärten, so hatte ich gehört, waren nach dem Krieg alte Emailleschilder als Komposthaufeneinfassungen verwendet worden. Ich lief also schon zwei oder drei Stunden durchs Kleinspartenidyll à la DDR. Irgendwann wird das Auge müde. Doch dann: Was war das? Ein Turbangesicht blinzelte kalt, und dann dieses Blau! Farben waren das! Ich erschrak. Einmal ob des Muselmanenkindergesichts und dann ob der Leuchtkraft der Farben. Was hatten solche Farben im Sozialismus zu suchen? An Terroristen war nicht zu denken, so was gab es bei uns nicht. Höchstens Widerstandskämpfer oder Patrioten, aber eben keine . . . Was stand auf dem Schild? »Greiling«. Nie gehört! Wahrscheinlich auch so ein Wort, was schon ausgestorben
war. »Greiling« – eine Art Dekoschild, Werbung für Zigaretten, wie sich später herausstellte. Mit kobaltblauen Tropfenaugen und einem quietschigen Quittegelb, von dem ich auch nicht weiß, wie es ausgerechnet nach Dresden kam.
Wenn man einer Sache wirklich verfallen ist, dann erfährt diese zu jeder Geschichte immer noch eine und noch eine, wie eine Zwiebel, die sich häutet, und hinter der siebten Schale wartet dann keine Träne mehr. Es ist ein Weinen vor Glück, weil Sie endlich zum Kern der Materie vorgestoßen sind.
In meinem konkreten Fall erfuhr ich später, dass eben dieses Kobaltblau heute nicht mehr hergestellt werden kann. Ist das nicht genial? Unglaublich? Die Menschen fliegen zum Mond, bekehren Nano und Atom, aber wie dieses spezielle Emaillekobaltblau angerührt werden könnte, bleibt Konjunktiv.
Ach, was jetzt kommt, gefällt mir: Zum Zeitpunkt des Aufschnoberns wusste ich natürlich noch nichts von alledem. Wie sollte ich auch ahnen, dass nicht ein Greiling meiner harrte, sondern drei, zwei davon in aller-allerbestem Zustand. Also gut: Zustand 2 Plus. Aber, ich bitte Sie, für ein Schild aus dem Jahre 1920 – ein Traum! Bombenangriff auch noch überlebt, also nicht geschmolzen. »Motiv ohne Knaller«, wie es im Fachjargon heißt. Meistens sind bei solchen Schildern, wenn man sie denn findet, Abplatzungen im Gesicht, weil Kinder diese Schilder zum Zielscheibenwerfen benutzt hatten. Aber nein – nix da, diesmal war es ein Volltreffer!! Es war für mich auch ein materielles Glück, denn ein Greiling brachte locker 400 Ostmark. Als Student hatte ich damals monatlich 290 DDR-Mark zur Verfügung, und ich hatte drei Greiling gefunden! An einem Nachmittag verdiente ich mehr als vier Monatsstipendien, da durfte es dann auch des Abends eine Flasche MFTW mehr sein. Mehrfruchttischwein. 2,75 Mark der DDR.
Später, als ich anfing, mit Schauspielerei Geld zu verdienen, kaufte ich mir Stück für Stück meine gesammelten und
dann veräußerten Jugendschätze zurück. So wurde aus einem Traum Materie. Und dieser materielle Traum wurde wahr. Über den Rückkaufpreis eines Sammlerstücks wird hier vornehm geschwiegen. Schließlich grenzt es an ein Wunder, dass eben dieser eine Greiling mit einem kleinen Einschluss unter dem Auge wieder in meine Hände gelangte. Ich glaube ja nicht an Zufälle, aber mein Kompost-Greiling kehrte nach einer Odyssee von Dresden über Frankfurt am Main nach Jahren wieder zu mir zurück.
Sammler sind bekanntermaßen nicht ganz zurechnungsfähig, und meist ist es die Geschichte, die daran hängt, weswegen man ein Sammelstück, und genau dieses, besonders liebt, zum Beispiel dieses Emailleschild aus Dresden, welches kündet von meiner einstmals reichen Stadt, die das Zentrum der Zigarettenindustrie darstellte. Die es sich leisten konnte, einzigartige Werbeträger fertigen zu lassen, welche in meinem Falle auch noch den Krieg unbeschadet überstanden und ihre Nützlichkeit in Form von Komposteinfassungen manifestierten. Kurz: die nicht totzukriegen sind.
Die Daseinsstationen meines Greilings waren demnach: Werbeträger, Gebrauchsgegenstand, Kunstobjekt. Man muss nur lange genug altmodisch sein, dann ist man irgendwann wieder ganz modern. Geduld heißt hier
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