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Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Titel: Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Steimle
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gebraten.
    Geschichte besteht aus Geschichten. Je kleiner die Geschichten, desto mehr geben sie Auskunft über das Leben. Schon mit acht Jahren durfte ich nach Übsche. Übsche? Ja, das ist sächsisch und meint den Stadtteil Übigau. Aber so viel Zeit für die Wörter hatten wir Sachsen schon damals ne. Und so startete ich meist Samstag gegen 11 Uhr in Richtung Flutrinne, Oma entgegen, eben nach Übsche. Anders als im Märchen vom Rotkäppchen brauchte ich meistens nichts mitzunehmen, denn weder war meine Oma krank noch brauchte sie etwas. Meine Oma hatte alles: Gänsewein und Kuchen vom Naumann-Bäcker. Sogar Westgeld hatte sie, aber auch vorm Küchenfenster ein kleines Scherengitter, vor dem Topfdeckel tropfnass drapiert wurden, die jedem zum Fensterhochgucker verkündeten: Hier wohnt jemand. Poetischer: Hier wohnt die Schneeweißoma. »Schneeweiß«, so war ihr Name, das klingt.
Ich weiß. Und immer, wenn ich auf den Namen kam, wurde mir mit Stolz verkündet: »Wir sind keine Juden.« Was hieß das? Obwohl ich keinen einzigen Juden kannte, geschweige denn auch jemals danach gefragt hätte, war ich doch beunruhigt. Mit acht Jahren im Sozialismus hatte ich eine reflexartige Abneigung gegen solche Menschen. Diese Abneigung wurde mir quasi von Haus aus mitgegeben. Ich betone: damals, um falschen Schlüssen vorzubeugen.
    Also der Reihe nach: Auch Kinder im Sozialismus spielten gerne, z. B. Gummitwist oder Ländermausen; auch brauchte ich manchmal Geld, und so verlegte ich mich aufs Wetten. »Wetten, dass Westautos schneller fahren als Trabi oder Wartburg?« »Wetten?« »Wetten tun die Juden, wenn sie Geld brauchen«, sagte meine Oma. Also so wie ich. Was war daran schlimm? War ich ein Jude, wenn ja, warum, und wie kam ich dazu? Auf jeden Fall wurde mir schlagartig klar: Wetten geht nicht. Wetten ist schlichtweg was Schlimmes.
    Ehrlich: Ich versuche zu beschreiben, was damals in mir vorging. Die Erinnerung ist trügerisch, ich weiß. Auf jeden Fall aber wurden Juden in den frühen Jahren des Sozialismus immer mit Geld und Geldhandel gleichgesetzt, und obwohl ja der neue Mensch geformt, erzogen, ja geradezu erschaffen werden sollte, klang das alte Nazivokabular manchmal noch durch. Reflexartig. Kinder schnappen irgendetwas zu Hause auf und verbreiten und verkaufen es dann als ihr Eigenes. Wetten, dass es genau so abläuft? Wetten?
    Seit 1980 habe ich diesen Satz auch nie mehr gehört. Den mit dem Geld meine ich. Nur jetzt beim Aufschreiben, beim Erinnern, ertappe ich mich, gerade an diesen Satz gedacht zu haben.
    Amerikas ehemaliger oberster Währungshüter, Grünspan, hat jahrelang mit falschen Krediten jonglieren lassen. Natürlich hat er davon nichts gewusst. Wetten? Wetten, dass Westautos schneller fahren als Trabi oder Wartburg? Was meinen
Sie, ob ich wohl diese Wette damals gewonnen hätte? Und wenn ja, wie groß wäre dann mein Deutschland geworden beim Ländermausenspiel 1969 im sozialistischen Dresdner Übsche. Vergessen …
    Vergessen aber ist nicht der Ausgangspunkt meiner Betrachtungen in Bezug auf Omas Scherengitter vorm Fenster. Denn nie vergesse ich die Zellophantüten, die ausgewaschen wurden und die ich dann zum Trocknen in die Frühlingssonne hängen durfte. Mit Plasteklammern. Und meistens waren es Milchtüten.
    Und Spatzen gab’s. Mein Gott, was gab es zum 20. Jahrestag der Republik für Spatzen! Weil es viel Dreck gab. Ohne Dreck keine Spatzen. Sie brauchten ebendiesen, um sich reinigen zu können. Zum 30. Jahrestag der Republik gab es noch mehr Dreck und noch mehr Spatzen, und es gab auch einen populären Reim, der zu fleißiger Arbeit zum Wohle der sozialistischen Heimat ermuntern und anspornen wollte:
    »Fleißig, fleißig, fleißig!
    Die DDR wird dreißig.«
    … Die Spatzen hielten sich an diese Parole.
    Und so saß ich denn am Küchenfenster und beobachtete, was draußen geschah. Oma rückte mir den gelben Stuhl ans Fenster. Ich bekam zwei Kissen, eins für die Knie und das gehäkelte für die Ellenbogen. »Das schont die Knochen.« »Und lehn dich ne’ so weit raus und kippel ne, und wenn ich rufe, kommste rein, sonst gibt’s keine Buchteln mit Familiensoße.« Das Fenster zur Welt stand auf in Dresden Übigau.
    Da ja alles mit allem zusammenhängt, müsste eigentlich beim Erinnern an Übsche auch der Weg dorthin skizziert werden. »Skizziert« – auch so ein neumodisches Wort! Kostet auch gleich gefühlte drei Euro mehr, virtuellen Geldes möglichst. Ich bitte Sie, wer bezahlt denn

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