Meine Reise in die Welt der Gewuerze
Physiologie, behandelt alle Arten von Krankheiten und beschreibt vor allem die Wirkungsweisen der Heilmittel. Das monumentale Werk basiert eindeutig auf der »Materia medica« des römisch-griechischen Arztes Dioskurides, des einflussreichsten Heilpflanzenbuchs vielleicht der gesamten Medizingeschichte. Doch Avicenna geht in seinen Rezepten oft deutlich darüber hinaus und ist von einer bestechenden Systematik. Jedes Kapitel ist identisch aufgebaut, beginnt mit dem Namen der Pflanze, beschreibt ihre Haupteigenschaften und schließlich ihre Wirkungen auf die einzelnen Organe. Über Ingwer heißt es zum Beispiel, dass er stark wärmend ist, also die Kälte in Magen und Leber vertreibt, und dadurch das Verdauungssystem ins Gleichgewicht bringt. Fast unbegrenzt sind laut Avicenna die Anwendungen des Safrans. Als Getränk eingenommen, sorgt er für eine gute und gesunde Hautfarbe. Er kann überdies eitrige Geschwüre auflösen, die Sehkraft verbessern, die Atemwege stärken und harntreibend wirken. Ein Segen für Gebärmutter, Magen und Milz ist er auch noch. Und zu guter Letzt steigert er die Lust bei Mann und Frau.
Avicenna behandelt eine Fülle komplexer Heilmittel, bei denen eine unglaubliche Vielfalt von Pflanzen und Gewürzen zum Einsatz kommt. Für ein vergleichweise einfaches Rezept, das gegen Magenschmerzen, Blähungen und Leberleiden wirken soll, mussten die Bestandteile aus der halben Welt zusammengetragen werden, darunter Indischer Goldregen, Indische Narde, Früchte von Fenchel, Sellerie, Kümmel, Dill, Anis, Lorbeerseidelbast und Bibergeil, das Sekret aus den Drüsensäcken des Bibers. Kaum weniger aufwendig ist die Zutatenliste für ein verdauungsförderndes Mittel namens »Electuarium«, das gegen einen sehr kalten, also sehr trägen Magen helfen soll. Man stellt es so her: Kreuzkümmel wird mit Essig aufgegossen und dann wieder getrocknet. Pfeffer, Ingwer, getrocknete Weinraute und Salpeter werden anschließend mit gereinigtem Honig vermischt – fertig ist der Wundertrank.
Bei diesem Rezept dachte Avicenna aber nicht nur an die Gesundheit, sondern auch an den Gaumen seiner Patienten. Dass Kreuzkümmel in Essig eingelegt, wieder getrocknet und geröstet werden soll, hatte keine zwingenden medizinischen Gründe. Die Kümmelfrüchte werden durch die Hitze aufgeschlossen, so entsteht ein erstaunlich angenehmes Aroma. Die therapeutische Wirkung des Kreuzkümmels wird dadurch nicht beeinflusst. Er regt den Speichelfluss sowie die Sekretion des Magenund Gallensafts an. Der Pfeffer wirkt genau in dieselbe Richtung. Ingwer steigert die Aktivität verschiedener Verdauungsenzyme und fördert ebenfalls den Gallenfluss. Die früher so beliebte Weinraute und Salpeter gelten heute als bedenklich, weil sie unter anderem Allergien auslösen können. Das Rezept wirkt aber sicher auch ohne diese Zutaten – und es wirkt heute genauso zuverlässig wie vor tausend Jahren.
Der »Canon medicinae« wurde um 1170 in der spanischen Stadt Toledo von Gerhard von Cremona und seinen Mitstreitern ins Lateinische übersetzt. Von der Mitte des 13. Jahrhunderts an war er das maßgebliche Grundlagenwerk des Medizinstudiums an sämtlichen europäischen Universitäten. Bis ins 16. Jahrhundert hinein musste sich jeder Medizinstudent über vier Semester mit Avicenna befassen. Eine solche Strahlkraft, die ein halbes Jahrtausend lang nicht verblasste, hat kein anderes Werk der mittelalterlichen Medizin erreicht.
Eine einzige andere Schrift konnte sich mit Avicennas epochalem Kanon messen: das Gesundheitshandbuch des christlichen Arztes Ibn Butlan, der 1066 starb. Mit seinem Werk »Tacuinum sanitatis« schuf er einen neuen Typ von medizinischer Literatur. Ibn Butlan diagnostiziert nicht, sondern tritt einen grundlegenden Schritt zurück und beschreibt erstmals in der Medizingeschichte eine umfassende Lehre der Diätetik, also der Gesundheitsvorsorge. Nach ihm kann der Mensch auf sechs Gebieten seine Gesundheit durch sein eigenes Verhalten positiv beeinflussen. Der vernünftige Umgang mit Essen und Trinken und die richtige Dosierung der Gewürze spielen dabei die zentrale Rolle. Dieses Wissen erklärt Ibn Butlan in tabellarischer Form – seine Tabellen wurden wegen ihres Aussehens als »Schachtafeln der Gesundheit« berühmt.
Die Aktualität von Ibn Butlan ist selbst nach tausend Jahren noch verblüffend. Er misst zum Beispiel den Meeresfischen einen größeren gesundheitlichen Wert als den Süßwasserfischen zu – genau das hat die
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