Meine Reise in die Welt der Gewuerze
was die Menschheit bis dahin gesehen und erlitten hatte. Fast jeder zweite Bewohner in Europa fiel dem Schwarzen Tod zum Opfer, ganze Landstriche wurden entvölkert, nichts schien diese Geißel aufhalten zu können. In ihrer Not wandten sich die Menschen an die Universität von Paris, damals die beste des Abendlands. Die Professoren verfassten daraufhin ihr berühmtes »Pestgutachten« – und hatten für die verzweifelten Menschen nur eine Antwort: Das Einzige, das euch retten kann, sind Gewürze. Basierend auf der Viersäftelehre der Antike, empfahlen die Professoren »für den Sommer kalte Aromen wie Rosen, Sandelholz, Seerosen, Essig, Rosenwasser, außerdem Kampferkissen, mit denen das Herz gestärkt wird«. Im Winter sollte man warme Aromen, etwa Amber und Muskatnuss, zu sich nehmen. Und Knoblauch, hieß es, helfe besonders gut gegen den Schwarzen Tod.
Der italienische Dichter Giovanni Boccaccio beschreibt in seinem Meisterwerk »Das Dekameron«, wie sich seine Mitmenschen damals mit Kräutern und Gewürzen gegen die Pest wappneten: »Sie trugen dabei Blumen in den Händen oder duftende Kräuter und Gewürze, die sie oft an die Nase führten, da es ihnen ratsam erschien, das Gehirn mit diesen Düften zu erfrischen, denn die Luft war angefüllt mit dem giftigen Atem der Verwesung, mit Krankenausdünstungen und Arzneigerüchen.« Andere behalfen sich mit sogenannten Pestnasen, Masken mit überlangen Nasen, die mit Gewürzen gefüllt wurden und die bis heute im venezianischen Karneval getragen werden. Auf die Heilwirkung der Natur vertrauten die Pestgeplagten bis weit ins 18. Jahrhundert. Als Marseille 1720 von der Seuche heimgesucht wurde, stahlen vier Diebe große Mengen von Knoblauch, mischten sich daraus – ganz so, wie es vier Jahrhunderte zuvor die Pariser Professoren empfohlen hatten – ein Getränk und überlebten dank dieser Mixtur. Sie wurden geschnappt, zum Tode verurteilt und dann doch begnadigt, weil sie das Geheimnis ihres Getränks preisgaben. Noch immer kann man in Frankreich ein Knoblauchpräparat mit dem Namen »Essig der vier Diebe« kaufen.
Nur mit Gewürzen konnte man im Mittelalter dem Tod die Stirn bieten. Wie das gelang, wussten zunächst aber einzig und allein die Klöster. Sie retteten nicht nur Seelen, sondern auch Leben, weil sie jahrhundertelang die einzigen Orte waren, an denen das Wissen über die Heilkraft der Gewürze gehütet wurde und sich kranke Menschen behandeln lassen konnten. Dass aus Mönchen Mediziner wurden, lag an den Wirren der Geschichte: Als Europa nach dem Untergang des römischen Imperiums und den Verheerungen der Völkerwanderung im 5. und 6. Jahrhundert vor einem kulturellen Scherbenhaufen stand, waren die Klöster – zusammen mit den Bischofssitzen – die wenigen verbliebenen Inseln der Zivilisiertheit. Die Kleriker konnten fast als einzige Menschen noch lesen und etwas mit dem Erbe der antiken Heilkunst anfangen. Das erkannte Benedikt von Nursia (um 480 – 547), der Gründer des Klosters von Monte Cassino in Süditalien, das zum Vorbild aller Klöster der römischkatholischen Kirche werden sollte. Er verlangte in seinen benediktinischen Grundregeln, dass sich die Mönche auch um Kranke kümmern und die Wirkungsweise der Heilpflanzen studieren müssten. So wurden die Benediktiner zu den Pionieren der Klostermedizin und sollten lange Zeit ihre größten Meister bleiben.
Die älteste erhaltene Schrift der mittelalterlichen Medizin ist natürlich ein Werk von Benediktinern. Das »Lorscher Arzneibuch« entstand um 790 im Kloster Lorsch bei Worms und basiert auf den Werken des römischen Naturforschers Plinius. Aus seiner »Naturgeschichte« stammt dieses Rezept, das wahrhaft universelle Heilkräfte zu haben scheint: »Es hilft denen, welche die Speise nicht bei sich halten können, gegen Schmerzen in der Seite, gegen Seitenstechen, Erbrechen von Blut, gegen jede Art von Husten, Atemnot, Dysenterie, Schlaflosigkeit, gegen Darmschmerzen, Koliken ... Es enthält: 1 Unze Myrrhe, 2 Unzen Safran, 1 Unze Bibergeil, 4 Unzen Langer Pfeffer, 1 Unze Pfeffer, 4 Unzen Kostwurz, 4 Unzen Styrax, 1 Unze Zimtkassie, 1 Unze Mutterharz.«
Die Heilmittel des »Lorscher Arzneibuchs« klingen zwar manchmal wie Alchemisten-Hokuspokus, doch sie sind es nicht. Das zeigt diese hochkomplexe Rezeptur gegen Verdauungsbeschwerden und Erkrankungen der Atemwege: Man soll Kümmelfrüchte mit Essig beträufeln, zehn Minuten lang quellen lassen, dann den Kümmel in eine Pfanne geben und
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