Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen
Komarow ein.
Durch einen Zufall lernte er wenige Monate später Pier Luigi Castello kennen, einen Wollweber aus dem norditalienischen Como: Er fuhr ihn mit dem Auto an. Pier Luigi, auf einer Sightseeing-Tour durch Moskau und völlig überwältigt von russischer Baukunst, war ihm benommen vor die Räder getaumelt. Rostislav schaffte den leicht Verletzten zu sich nach Hause und versorgte seine Wunden.
»Mein Vater entstammt schließlich einer Ärztedynastie, er wusste, was zu tun war!«
Der Italiener war unendlich dankbar, zwischen den Männern entstand eine tiefe Freundschaft, die bis zum heutigen Tage andauerte. Pier Luigi führte Rostislav in die Geheimnisse der Woll- und Seidenweberei ein und verschaffte ihm erste Kontakte zu Mailänder und Turiner Stoffhändlern.
Die neue Moskauer Oberschicht, ausgehungert nach Jahrzehnten der Entbehrung, gierig nach ein wenig Luxus und plötzlich zu nicht immer redlich erworbenem Reichtum gekommen, riss Rostislav das edle Tuch quasi aus den Händen. So erwarb er nach und nach ein bescheidenes Vermögen. Es reichte jedenfalls, dass Darya nicht mehr selbstgezogenes Gemüse von der Datscha auf dem Markt verkaufen musste.
Anfangs hatte sich Rostislav noch bemüht, Maxim Moissejewitsch für sein neues Geschäft zu begeistern. Doch der schalt den Handel mit italienischen Stoffen eine aberwitzige, von vornherein zum Scheitern verurteilte Idee. Ihre beruflichen Wege trennten sich. Nun, da Rostislav erfolgreich war, stand Maxim plötzlich vor ihm und forderte fünfundzwanzig Prozent vom Gewinn.
»Nachdem ich die ganze Arbeit hatte, kommst du und willst etwas abhaben? Nein, mein Freund, jetzt ist es zu spät. Am Geschäft werde ich dich nicht beteiligen. Wenn deine Familie aber Hunger leidet, dann helfe ich dir gern«, beschied ihn Rostislav.
Maxim, von Neid zerfressen, wandte sich an ein paar Männer aus der Moskauer Halbwelt, zu denen er seit Jahren eine lose Verbindung unterhielt. Auch diese Männer klopften an Rostislavs Tür. Sie forderten vierzig Prozent. Andernfalls müssten sie seinem Sohn das rechte Ohr abschneiden und seiner Frau beide Daumen.
»Mein Vater ist ein pragmatischer Mann«, sagte Artjom, »ein Ohr, das hätte er notfalls in Kauf genommen. Ich habe schließlich zwei davon und trug damals die Haare länger. Aber wie hätte meine Mutter ohne Daumen noch ihrem Beruf nachgehen können?«
Also gab Rostislav den Männern erst einmal Geld und plante heimlich, unterstützt von seinen italienischen Freunden, die Ausreise nach Deutschland. Anträge wurden gestellt, Visa besorgt, das Vermögen über Umwege in die Schweiz transferiert, Wertsachen, Andenken und Unentbehrliches in Kartons verpackt, mit nicht unerheblichen Summen kooperative Beamte motiviert, das Verfahren zu beschleunigen. Am 23 . Dezember 1991 war es dann so weit. Familie Polyakow bestieg mit einem kleinen Teil ihres Hab und Guts ein Flugzeug Richtung Deutschland.
»Aber warum seid ihr nicht nach Italien gezogen?«, fragte ich, in der Aufregung über das eben Gehörte zum Du übergehend. »Warum Deutschland?«
»Italien nimmt keine Russen.«
»Und Deutschland schon?«
»Russen nicht. Aber Juden.«
Bis dato hatte ich mir über den Aufenthaltsstatus der Polyakows noch keine Gedanken gemacht, Themen wie Einwanderung und Flüchtlinge lagen außerhalb meiner Lebenswelt, mit echten Migranten war ich noch nie in Berührung gekommen. Auch Juden kannte ich keine. Während meines Studiums hatte ich zwar einen Kommilitonen, der Rosenblum hieß und von dem ich annahm, dass er jüdischer Herkunft sei, aber darin erschöpften sich meine Kenntnisse.
»Ach, ihr seid Juden«, rief ich deshalb überrascht.
»Ja, ja, so in der Art«, antwortete Artjom ausweichend, »wir sind sogenannte Kontingentflüchtlinge.«
Mein Kopf summte vom Alkohol und den ganzen Informationen. »Darauf trinken wir noch einen«, sagte ich und stieß mit Artjom an.
Wir tranken nicht einen, wir tranken mehrere. Irgendwann rutschte ich von meinem Campingstuhl und nahm durch einen Nebel wahr, dass mich jemand auf starken Armen ins Haus trug, in ein Bett legte, von Schuhen und Jeans befreite und zudeckte. Dann schlief ich ein.
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3
D er Morgen war das nackte Grauen. Ich erwachte, gepeinigt von unerträglichen Kopfschmerzen und einer bedrohlichen Atemnot. Ersteres schrieb ich den Ausschweifungen der letzten Nacht zu, Letzteres lag an Wassja, der es sich auf meinem Brustkorb gemütlich gemacht hatte.
»Feines Hündchen«, krächzte ich,
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