Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen
los.
Ich habe einen kleinen Tick. Ich bin per se ein ordentlicher Mensch. In Stresssituationen allerdings fange ich an, Dinge zu sortieren und manisch im rechten Winkel zueinander auszurichten. Das gibt mir Halt in unsicheren Zeiten und ist der Beweis, dass die Welt nicht aus den Fugen gerät. Nach einem Tag des Ordnens, Aufräumens und Geraderückens hatte ich mein inneres Gleichgewicht wiedergefunden.
Per Mail schickte ich Artjom die Formulare für die Prozesskostenhilfe und schob alle Bedenken beiseite. Wenn Rostislav seine angebliche Armut nachweisen konnte, sollte es mir recht sein. Ich war Anwältin und nicht beim Finanzamt.
Außerdem brauchte ich diesen Fall und war entschlossen, ihn zu gewinnen. Die Polyakows mochten ein wenig komisch sein, aber ich zweifelte nicht daran, dass sie bestohlen worden waren. Bedürftige ausländische Juden um ihre letzten Besitztümer bringen, dachte ich, das wollen wir doch mal sehen. Wahrscheinlich war Reimers Antisemit.
Innerhalb kurzer Zeit schaffte es Rostislav, alle Formulare auszufüllen und die entsprechenden Belege beizubringen – Einkommensteuererklärungen der letzten Jahre nebst der schriftlichen Versicherung seines Steuerberaters, dass die sprichwörtlichen Kirchenmäuse im Vergleich zum Ehepaar Polyakow Oligarchen waren. Erleichtert reichte ich alle Unterlagen bei Gericht ein.
Darya, Rostislav und Artjom schauten nun täglich bei mir in der Kanzlei vorbei, einzeln, zu zweit oder zu dritt. Sie hatten zufällig immer gerade in der Nähe zu tun und wollten nur kurz wissen, ob es mir gutginge.
Dabei vergaßen sie nie, mir zu versichern, wie glücklich und dankbar sie seien, von so einem herausragenden »Advokat« vertreten zu werden. Auch Freunden, Nachbarn und der Verwandtschaft im fernen Russland habe man schon von mir erzählt und sei von allen Seiten zu dieser Wahl beglückwünscht worden. Kurzum: Der Stolz auf ihre Staranwältin troff ihnen aus jeder Pore.
Die Komplimente trafen mich unvorbereitet und waren mir anfänglich peinlich. Zum einen hatte ich noch nichts getan, was das Lob rechtfertigen konnte. Zum anderen war ich Aufmerksamkeiten dieser Art nicht gewohnt. Meinen Eltern, insbesondere meinem Vater, hatte ich es nie recht machen können. Und auch Bernhard hatte mir in unserer Beziehung eher das Gefühl gegeben, dass ich ein Nichts und er der Nabel der Welt sei.
Aber nach und nach begann ich, die Vorschusslorbeeren zu genießen, und schloss mich der allgemeinen Meinung, ein super »Advokat« zu sein, an. Vielleicht, weil in dieser beruflichen Anerkennung stets die Überzeugung der Polyakows mitschwang, dass ich überdies ein zutiefst liebenswerter Mensch war. Würdig, als vollwertiges Mitglied in den Kreis ihrer Familie aufgenommen zu werden.
Bei ihren Besuchen brachten sie neben ihrer überbordenden Wärme und Herzlichkeit stets kleine Geschenke mit. Rostislav vermachte mir ganze Flaschenbatterien seines Kwass – »So gäsund, Paula, so gäsund.«
Darya – jedes Mal in einem neuen spektakulären Outfit, ihr Stil schwankte zwischen Opernball und Fasching, war aber stets recht offenherzig – steckte mir Gläser mit eingemachtem Gemüse zu. Dabei tätschelte sie wahlweise meine Wange oder meine Hand und vergaß nie, mir wie eine Beschwörungsformel ein »Artjom gutt Mann« zuzuraunen.
Rede du nur, dachte ich. Aber insgeheim stimmte ich ihr zu. Artjom schien anders zu sein als die Männer, die ich bislang kennengelernt hatte. Nun gut, das waren nicht allzu viele, aber allesamt eher nüchterne, wortkarge Vertreter ihres Geschlechts. Gleich und Gleich gesellt sich eben gern, und ich bin kein Ausbund an Gefühlsduselei.
Trotz seiner expressiven Art, sich zu kleiden, war Artjom sehr emotional und auf eine altmodische Art galant. Wenn er mit weit ausholenden Schritten meine Kanzlei betrat, umwehte seine unmissverständlichen Annäherungsversuche stets ein Hauch von Melancholie.
Mal vermachte er mir eine alte, zerfledderte Ausgabe von »Russische Liebesgeschichten« und flüsterte bedeutungsschwanger: »Falls du Dostojewski oder Turgenjew magst …«, mal brachte er mir eine CD mit – »Chansons!« –, deren russische Interpreten für mich unaussprechliche Namen hatten. Doch die Musik rührte mich. Artjom rührte mich.
Außerdem musste ich mir eingestehen, dass ich ihn unglaublich sexy fand. Seine Hemden waren immer einen Tick zu weit aufgeknöpft und erlaubten den Blick auf eine makellos muskulöse, unbehaarte Brust. Seine Gesten waren
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