Meine Schwester und andere Katastrophen
unten?«
»Oben«, sagte ich, und sie gab nach. Dann setzten wir uns auf zwei Küchenstühle (ich bekam keine Luft mehr, wenn ich mich nicht kerzengerade hielt, darum musste ich immer
wie die Königinmutter persönlich sitzen), und Lucille holte ein dickes Bündel Fotos aus einer großen, bunt gemusterten Reisetasche.
»Das da ist noch eines von deiner Mutter etwa aus der Zeit, als sie dich im Bauch hatte«, sagte meine Tante, und die Worte hallten mir im Ohr nach, während ich die junge Frau auf dem Foto betrachtete. Sie hatte mich im Bauch gehabt. Ich war aus ihr gekommen.
Ihr Haar war gewellt, und meines war glatt. Ihre Augen waren blau, meine braun. Aber etwas an ihrer Gesichtsform und an ihren Wangenknochen wirkte vertraut. Ich hielt das Foto fest, am liebsten wäre ich hineingesprungen und hätte sie umarmt. Es war schwer. Es war schwer zu ertragen.
»Sie ist so hübsch«, sagte ich. Mehr brachte ich nicht heraus.
Lucille saß schweigend neben mir. Sie rührte sich nicht, aber ich spürte die Wärme, die sie ausstrahlte. »Sarah hätte sich so darüber gefreut.«
Lucille hielt ihr Versprechen und blieb genau eine Stunde. Ich war froh. Ich hatte mich unglaublich gefreut, sie kennen zu lernen, aber ihr Blick war so intensiv - ich spürte ihre Sehnsucht danach, mich zu erforschen, meine Haarsträhnen mit den Fingerspitzen zu betasten wie ein Affe. Ich brauchte Zeit und Platz zum Atmen - und um mich neu zu orientieren. Wir hatten bis an unser Lebensende Zeit, uns nahezukommen - und ich hatte das starke Gefühl, dass wir es tun würden.
Wir umarmten uns noch mal vor der Haustür, und dabei fuhr sie mit erhobenen Händen mein Kinn nach, ohne die Haut zu berühren.
»Das Baby meiner kleinen Schwester«, sagte sie. »Danke, dass du zu uns zurückgekommen bist.«
Mit gesenktem Kopf lief sie zu ihrem Auto, weshalb sie Mummy nicht bemerkte, die direkt an ihr vorbeiging, einen Arm emporgereckt, um den tomatenroten VW Beetle abzuschließen. Klick-klick!
Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich Mummys Gesicht sah. »Wer war das?«, fragte sie, und mir war klar, dass sie es wusste.
Eigenartig, wie das Leben so läuft. Als sie und Geoffrey mir vor so vielen Jahren verkündet hatten, dass ich adoptiert worden war, hatte ich kalte Genugtuung verspürt, meine Flucht und meine Neuerfindung geplant. Und jetzt, wo ich die Freiheit hatte wegzugehen, merkte ich, dass ich es nicht konnte. Lucille täuschte sich, ich war nicht zurückgekommen - ich war nie weggegangen -, beide Seiten waren zu mir gekommen. Ein Teil in mir wünschte, ich könnte mich wie eine Amöbe in zwei Teile spalten. Lucille hatte mich zu sehr angehimmelt, um auch nur einmal nach meiner Adoptivfamilie zu fragen. Und wenn ich Mummy ansah, entdeckte ich in ihrem Gesicht blanke Verständnislosigkeit darüber, dass mich nach so langer Zeit eine Wildfremde aufsuchte.
»Was will sie von dir?«
Mummy interessierte sich nicht für die Semantik der Gefühle. Sie fühlte, was sie fühlte, und wenn ihr dieses Gefühl nicht gefiel, war das unübersehbar. Sie war wie eine Wildkatze, die ihr Junges verteidigt. Für die Ansprüche einer anderen zeigte sie weder Verständnis noch Toleranz.
Ich lächelte sie an. »Eine Beziehung«, sagte ich. »Ach ja! Und mein erstes Kind!«
Mummy lächelte nicht. Sie sah aus wie ein Luftballon, aus dem die Luft gelassen wird. Schweigend reichte sie mir eine Einkaufstüte von Baby Gap.
»Mummy«, sagte ich und legte die Hand auf ihre Schulter.
»Weißt du, es heißt nicht entweder - oder. Sondern sowohl als auch.«
Ich wollte ihr von meiner jüngsten Entdeckung erzählen. Dass das Herz zwar ein kleines, hässliches, unförmiges Organ ist, das leicht vor Eifersucht oder Zorn überfließt, aber wie jeder andere Muskel durch stete Übung trainiert werden kann und eine seltsame, unbegrenzte Fähigkeit zur Liebe hat. Aber ich tat es nicht. Ich wusste es, und sie wusste, dass ich sie liebte. Und das war genug.
Lizbet
KAPITEL 41
Der weiße Laster rumpelte vorbei. »VORSICHT LEBENDE KINDER« stand auf dem gelben Schild am Heck. Ich blinzelte und sah noch mal hin, mit panisch schlagendem Herzen. Das war was Neues. Lebende Rinder . Ach so. Ein Tiertransport. Verflucht noch mal. Wem machte ich eigentlich was vor? Cassie hatte recht: Mehr als alles andere wollte ich endlich Mutter sein.
Der sehnliche Wunsch danach blendete mich - oder zumindest ließ er mich halluzinieren. Ich hätte die höchsten Berge erklommen, einen ganzen Eimer
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