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Meine Schwester und andere Katastrophen

Titel: Meine Schwester und andere Katastrophen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maxted
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machten. Ich konnte es mir lebhaft vorstellen: »Ach, ihr seid also gar keine richtigen Schwestern … Was ist sie dann … deine … Halb … Nein! Deine … Stief …? Nein, deine adoptierte … Ach, sie ist ihr leibliches Kind … O Gott, ich habe den emotionalen Intellekt einer Stubenfliege …« Ich persönlich gab keinen Pfifferling darauf, was die Leute sagten, aber Lizbet war da anders.

    »Ich werde ihr nichts sagen«, beschloss ich. »Ich will, dass es ein Geheimnis bleibt.«
    Daddy räusperte sich. »Cassie, wenn du deine leiblichen Eltern finden willst, werden wir dich unterstützen. Ich habe eine Reihe von Dokumenten aufbewahrt. Oder die Bank bewahrt sie auf, genauer gesagt. Ich kann sie jederzeit holen.«
    Mummy setzte ein trauriges Gesicht auf.
    Ich sah auf meine neue rosa Casio-Digitaluhr. »Es ist jetzt sechzehn Uhr sechs und siebzehn Sekunden. Die Bank schließt um sechzehn Uhr dreißig. Wenn du dich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung hältst, könntest du es gerade noch schaffen.«
    »Richtig«, sagte Daddy. »Also gut. Absolut. Okeydokey.«
    Er holte die Schachtel und übergab sie mir. Ich riss sie ihm wortlos aus den zitternden Händen, raste nach oben und setzte sie auf meiner Tagesdecke ab. Mit klopfendem Herzen starrte ich darauf. Und dann schubste ich sie mit einer schnellen, heftigen Bewegung unters Bett, weit, weit weg, in die hinterste, dunkelste Ecke, in der sie niemand vermuten würde. Vielleicht dachte ich jeden Tag an diese Schachtel. Aber ich rührte sie jahrelang nicht an. Denn was du nicht weißt, kann dir nichts anhaben. Oder den Menschen, die du liebst. Ich konnte mich mit meinem Geheimnis trösten, wenn mich Daddy oder Mummy zum Wahnsinn trieben, und dann, wenn alles ausgestanden war, die Sache abstreifen wie einen Traum. Solange meine Herkunft ein strahlendes Werk meiner Phantasie blieb, hatte ich das Heft in der Hand. Ich hatte die Macht. Aber sobald ich die Fakten in meinen Kopf lassen würde, würden sie mich beherrschen. Anders war es nicht möglich, denn sie bestimmten über meinen Körper, meine Seele, meinen Ursprung. Die Papiere in der Schachtel würden mir möglicherweise das Herz zerreißen. Gut, ab und zu
juckte mich die Neugier, aber sie war nichts im Vergleich zu der Angst, die mich plagte. Indem ich nichts unternahm, bestimmte ich, dass sich nichts ändern sollte, und so war es auch. Die Menschen stöhnen oft, dass sich »nichts bewegt«, aber mir gab dieser Stillstand die größtmögliche Sicherheit.
    Eventuell hätte ich meine Vergangenheit für alle Zeiten unter Verschluss gehalten, wenn ich nicht acht Jahre später George begegnet wäre. Also, eigentlich nicht George selbst - sondern seinen Eltern. Damals begann ich mich zu fragen, was man mir vorenthalten hatte. Ivan Hershlag sprach mit kräftigem russischem Akzent, obwohl er praktisch sein ganzes Leben im East End verbracht hatte, und stand, wenn es ihm in den Kram passte, der modernen Welt unversöhnlich gegenüber. Sheila Hershlag führte den Haushalt um ihn herum. Sie war eine verfeinerte Version der typischen jüdischen Mutter. Sie drängte mich mit aller Macht zum Essen, was allerdings nicht allzu unangenehm war, da sie hervorragend kochte. (Womit ich nicht sagen will, dass ich alles aß, was sie mir auftischte. Genau wie jede andere Frau kann ich ohne Probleme ein Riesenstück Mozzarella vertilgen, aber nicht unbedingt zu jeder Zeit.)
    Sie vergötterte George.
    »Ist er nicht so gutaussehend !«, rief Mrs Hershlag gern aus und hielt dabei sein Gesicht in beiden Händen. »Das ist mein Baby !«
    »Mhm«, sagte ich. Und dann, weil ihr das nicht genügte: »Ja, er sieht gut aus.«
    Nicht dass ich nicht einer von Georges größten Fans gewesen wäre. Er war schwierig, hochintelligent, noch mehr von sich eingenommen und mit einem garstigen Humor ausgestattet. Das liebte ich an ihm. Er erinnerte mich an mich selbst. Außerdem war er groß, hatte einen Künstlerkörper
und schneidige Brauen. Die Rolle der Augenbraue für die Attraktivität eines Mannes wird schwer unterschätzt. Mrs Hershlag hatte recht, ihr Sohn war wirklich gutaussehend. Ich kann es nur nicht leiden, wenn mir die Gefühle aus dem Leib gewrungen werden.
    Aus heiterem Himmel konnte sich Mrs Hershlag erinnern, zu welcher Tageszeit George den ersten Schritt getan hatte (nach dem Mittagessen, mit elfeinhalb Monaten). Sein erstes Essen (pürierter Zwieback mit Milch und »einem Krümel Zucker« in seiner blau getüpfelten Schale), das Alter,

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