Meine Schwester und andere Katastrophen
sie in einer Zeitschleife, in der George ewig zwölf Jahre alt blieb. Doch obwohl sie mir all diese Informationen aus gutem Grund ans Herz legte, wusste sie
wahrscheinlich, dass ich nichts davon beherzigen würde. Trotzdem gab sie die Hoffnung nicht auf. Anfangs irritierte es mich, wie sie ihn anbeteten und für wie selbstverständlich er das hielt. Wenn ich George auf dem Sofa lungern sah, sagte ich nur: »Bei den Marines würden sie dich bestimmt nicht nehmen.«
»Ich rufe vielleicht nicht jeden Tag an«, sagte Mrs Hershlag irgendwann zu mir. »Ich will euch schließlich nicht zur Last fallen. Aber George und du, ihr seid immer« - dabei tippte sie sich an die Stirn - »hier drin.«
Sie waren die warmherzigsten, großzügigsten Menschen, die mir je begegnet waren, und so nett, dass es mir den Atem verschlug. Natürlich strahlte ihre Liebe vor allem auf George, aber auch ich hatte das Gefühl, in ihrer Wärme aufzutauen - sie geizten wahrhaftig nicht mit Gefühlen. Dass Eltern so wunderbar sein können, war eine Offenbarung für mich. Lizbet und ich mochten Mummy und Daddy absurd gern. Wenn man uns die Pistole auf die Brust gesetzt hätte, hätten wir sogar das L-Wort in den Mund genommen. Trotzdem war es eine frustrierende, missmutige, augenverdrehende Art von Zuneigung, weil wir - abgesehen davon, dass wir früher unter demselben Dach gelebt hatten - wenig mit unseren Eltern gemeinsam hatten und ihre Entscheidungen nicht immer guthießen. Die Besuche bei ihnen waren eher Pflichtübungen.
Sheila und Ivan hingegen versetzten mich mit ihrer selbstlosen Liebe immer wieder in Erstaunen. Wenn George und ich bei ihnen waren, stellten sie ihre Bedürfnisse automatisch zurück. Falls sich ihr Sohn ihnen gegenüber nicht gerade vorbildlich verhielt, verbargen sie ihre Enttäuschung auf wahrhaft erwachsene Weise. Kein Schmollen, kein Zorn, keine kleinlichen Racheakte, sie nahmen es einfach hin. Plötzlich
ging mir auf, wie kindisch Vivica als Mutter war. In ihrer Familie war sie das Nesthäkchen gewesen und hatte an ihrer Mutter geklebt (die sechs Monate vor Lizbets Geburt an Krebs gestorben war). Inzwischen konnte ich Mummys unbewussten Wunsch erkennen, auf ewig Tochter zu bleiben.
Sheila und Ivan waren archetypische Eltern, und ihre reine, ungefilterte Liebe machte mir bewusst, wie viel mir in meiner Kindheit entgangen war. Inzwischen konnte ich Vivica verstehen, aber ich wusste nicht, ob ich ihr verzieh. Ehrlich gesagt interessierten mich ihre pathologischen Bedürfnisse nicht. Mein Gefühl sagte mir, dass man, sobald man ein Kind bekommt, zu einem Elternteil wird: Nichts ist so wichtig wie dein Baby. Ich hätte wetten können, dass auch Sheila Bedürfnisse hatte - aber sie ignorierte sie, weil sie das Gefühl hatte, dass George wichtiger war. Ich weiß, das klingt aus feministischer Perspektive falsch, aber scheiß drauf, ich spreche hier als Kind.
Für mich war Mrs Hershlag die ideale Mutter. Nach ihrer Liebe konnte man süchtig werden. Je mehr ich davon genoss, desto mehr Liebe wünschte ich mir. Ich begann mir Fragen zu stellen. Und Hoffnungen zu machen. Ich war sechsundzwanzigeinhalb Jahre alt. Ich hatte einen exzellenten Juraabschluss von der Cambridge University. Ich arbeitete in einer prestigereichen Kanzlei und war dabei, mir einen Namen als Anwältin für Familienrecht zu machen. Ich war eine verheiratete Frau kurz vor ihrem fünften Hochzeitstag. Und zum ersten Mal in meinem Leben traf mich die Erkenntnis: Innerlich war ich immer noch ein Kind, das zu seiner Mama wollte - meiner natürlichen und wahren Mutter, die irgendwo da draußen war und verzweifelt darauf wartete, mir diese Liebe zeigen zu können.
Ich zog die Schachtel unter dem Bett hervor und öffnete sie.
KAPITEL 8
In der Schachtel lag ein brauner Umschlag. Mit zittrigen Fingern nahm ich ihn und zog einen Stapel vergilbter Papiere heraus. In meinem Kopf begann es zu pochen, aber falls das Nervosität war, schlug ich sie nieder wie ein König einen Bauernaufstand. Ich überflog die verschiedenen Briefköpfe - »National Health Service INNER LONDON EXECUTIVE COUN-CIL«, »National Children Adoption Association« -, wühlte mich durch die Seiten und verstreute sie auf der Küchentheke. Sie war nach Georges Frühstück mit buttrigen Roggentoastkrümeln übersät, aber es war wichtig, dass mir das egal war.
Mir fiel ein auf einer mechanischen Schreibmaschine getippter Satz ins Auge:
Gegen den mutmaßlichen Vater wurde keine Vaterschaftsklage
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