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Meine Schwester und andere Katastrophen

Titel: Meine Schwester und andere Katastrophen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maxted
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Bad mit Dusche erklären können. Aber es missfiel ihnen, dass Evelyn Toberman ganz allein im Mittelpunkt gestanden hatte und von DER FRAU DES RABBI zum Mittagessen eingeladen worden war. (Mummy hatte mit DER FRAU DES RABBI nie etwas zu schaffen gehabt, außer beim Sukkot, dem Laubhüttenfest, das vor allem im Freien gefeiert wird, und da hatte sie alles vermasselt, indem sie bemerkte: »Also, es sieht ganz so aus, als würde sich das Wetter halten - klopf auf Holz!«)
    »Heißt das, dass ich bis ein Uhr früh aufbleiben kann?«
    »Das heißt es ganz bestimmt nicht!«, sagte Mummy. »Du bist kaum aus den Windeln raus!«
    »Richtig.« Ich kniff wieder die Lippen zusammen. Dann entkniffen sie sich wie von selbst und dehnten sich zu einem Grinsen. »Ihr seid gar nicht meine Eltern«, sagte ich. »Ihr könnt mir keine Vorschriften machen!«
    Theoretisch waren das phantastische Aussichten.
    Ich war noch nicht fertig. »Und falls ich keine Jüdin bin, geht mich das Passahfest nichts an. Darum kann ich ab sofort die Gebete am Sederabend ausfallen lassen und erst zum Essen runterkommen.«
    Daddy legte die Stirn in Falten. »Cassie, du bist sehr wohl Jüdin. Deine biologischen Eltern waren Juden. Also wirst du dir wie wir alle jedes Jahr die gesamte Haggada vorlesen
lassen. Außerdem sind wir sehr wohl deine Eltern. Vielleicht nicht in biologischer, aber in jeder anderen Hinsicht. Und das bedeutet, dass wir dir Regeln vorgeben. Aber vielleicht«, er zögerte, »kannst du heute doch bis ein Uhr früh aufbleiben, allerdings nur im Haus. Ich hoffe, es ist kein allzu großer Schock für dich. Wenn du uns irgendwas fragen möchtest«, meinte er noch, schon halb aus dem Zimmer, »dann habe bitte keine Angst, es zu tun, nur weil du denkst, dass du uns damit wehtun würdest.«
    »Du scheinst das sowieso ganz gut aufzunehmen.« Mummys Stimme duldete keinen Widerspruch. »Gefallen dir die O-ho-Tickets?«
    Ich starrte benommen auf die Tickets. Sie waren, wie nicht anders zu erwarten, für die erste Reihe. Daddy war dafür berühmt, für jedes Ereignis die besten Tickets zu ergattern, und er war erst zufrieden, wenn sich die Hotelgäste mit Kommentaren wie »Wir saßen vor dem Premierminister!« bedankten.
    »Ja«, sagte ich.
    Ich hoffte, sie erwarteten keinen Dank. Dann sah ich ihnen ins Gesicht und erkannte, dass sie keinen wollten. Sie sahen aus, als würden sie bei lebendigem Leib von Ameisen gefressen. Möglicherweise fürchteten sie, dass mich diese Neuigkeit niederschmettern und ich irgendwie extrem reagieren könnte, sodass sie wiederum reagieren müssten. Zum Glück für die beiden gingen sie als Eltern nur knapp durch, sodass ich erleichtert - sogar dankbar - war, dass ich nicht mit ihnen verwandt war. Damit hatte ich die Chance bekommen, wiedergeboren zu werden. Als Kind von besseren Eltern. Das Einzige, was mir an diesem Drama nicht gefiel, war die Tatsache, dass ich - ich, dieses kostbare Wesen - als Baby wie ein Sack Bohnen von Hand zu Hand gegangen war. Das behagte
mir gar nicht. Das behagte mir so wenig, dass ich beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Wenn ein Gedanke zu keinem guten Ende führte, zog ich es vor, ihn auszublenden.
    »Weiß Lizbet Bescheid?«, fragte ich.
    Sie schüttelten den Kopf. Daddy trat einen Schritt ins Zimmer und sagte: »Wir dachten, dass du es ihr sagen solltest. Das heißt, wenn du das willst.«
    Meine Brust fühlte sich heiß und zugeschnürt an. Ich war dreizehn und egoistisch bis ins Mark, aber selbst ich begriff, dass diese Neuigkeit ein Schlag für Lizbet wäre. Sie würde sich allein gelassen fühlen. Die beiden hatten keine Ahnung. Sie verstanden sie nicht. Sie hatten sich nie die Mühe gemacht, ihr eigenes Kind kennen zu lernen. Stattdessen hatten sie die Jahre damit verbracht, meinen Hintern zu küssen, weil ich diejenige war, die nicht das Gefühl haben durfte, etwas Besonderes zu sein. Sie hatten mich genauso wenig verstanden. Jetzt, wo ich wusste, dass sie nicht meine richtigen Eltern waren, fühlte ich mich tatsächlich wie etwas Besonderes.
    Und trotzdem. Was würde diese Entwicklung für mich und Lizbet bedeuten? Eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl, gewaltsam von ihr getrennt worden zu sein, und ich ertrank in meinem Zorn, bevor ich begriff, dass sich für mich nichts an meinen Gefühlen ihr gegenüber ändern würde. Vielmehr waren es unsere Mitmenschen - mit ihrem ständigen Bohren und ihrem erbärmlichen Verlangen nach starren Definitionen -, die mir Sorgen

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