Meine Schwester und andere Katastrophen
wenn die Polizei den Anruf zurückverfolgen könnte, würde man mir nie nachweisen können, dass ich etwas gesagt hatte.
Das Telefon läutete, und ich zuckte zusammen.
»Cassie? Hier ist Dad. Ich kann nicht lange sprechen, ich bin noch bei der Arbeit. Ich wollte nur nachfragen, wie es dir geht.«
»Es geht«, sagte ich. Er schien auf mehr zu warten, darum fügte ich hinzu: »Komisch ist das schon.«
»Ja.« Er holte Luft. »Ich hoffe, die Briefe haben dich nicht allzu aufgewühlt?«
»Was für Briefe?«
»Die Briefe von Sarah Paula.«
»Sie hat keine Briefe geschrieben«, sagte ich.
»Doch, doch, das hat sie, sieh noch mal nach. Sie schrieb an die Agentur, und dann kam sie irgendwie an unsere Adresse und schrieb uns. Vivica war außer sich. Vivica … Cassie, ich rufe gleich noch mal an.«
Sechzig Sekunden später läutete das Telefon. »Mummy kommt gleich bei dir vorbei«, sagte mein Vater. »Sie hat ein paar Briefe für dich. Ich fürchte, sie hielt es für richtig, die Dokumente zu … sichten. Wir wissen beide, dass das richtig und wichtig für dich ist … Sei nicht allzu streng mit ihr.«
Als Mummy erschien, trug sie eine Sonnenbrille, ein Kopftuch und einen beigen Trenchcoat, als wollte sie einer tragischen Leinwandheldin Respekt zollen wie beispielsweise Audrey
Hepburn. Sie überreichte mir einen weißen Umschlag. »Es ist mir gleich, was du denkst, sie war ein dummes, dummes Mädchen«, erklärte sie und dampfte ab zu ihrem neuen Beetle Cabrio in Tornadorot (Daddy hatte einmal versehentlich »Tomatenrot« dazu gesagt, und sie war völlig ausgerastet).
»Meine Güte«, murmelte ich und machte die Haustür wieder zu. Dann ging ich mit dem Umschlag nach oben in mein Arbeitszimmer und zog die Briefe heraus.
Sarah Paulas mädchenhafte, in schwarzer Tinte gehaltene Handschrift wirkte gedrückt und rundlich. Doofi-Handschrift, dachte ich innerlich feixend. Der Brief war an die Vorsitzende der Adoptionsagentur adressiert.
Wären Sie so gut, mir zu schreiben, wie es meiner kleinen Jane geht, ich mache mir so große Sorgen um sie, ich hätte schon letzte Woche geschrieben, aber da war ich krank … und dass ich die kleine Jane hergeben musste, hat alles noch schlimmer gemacht. Ich weiß, dass Sie ab und zu von Janes neuer Mummy hören, aber vielleicht könnte jemand von Zeit zu Zeit unangemeldet in ihrer neuen Familie auftauchen, bloß um nachzusehen, dass sie gut behandelt wird.
Der nächste Brief war zwei Monate später geschrieben worden.
Sehr geehrte Madam,
als mir mein kleines Mädchen weggenommen wurde, haben Sie mir versprochen, dass mir die neue Mummy ein Foto von Jane schicken würde. Ich finde sonst keine Ruhe, ich zahle, was Sie wollen, aber ich muss unbedingt
ein Bild von ihr haben. Ich habe so viel Angst um sie. Bitte, bitte schreiben Sie mir, wie es ihr geht und was sie macht. Es würde mir das Herz brechen, wenn ich kein Foto von ihr haben könnte. Bitte verzeihen Sie, dass ich so aufdringlich bin, aber ich weiß, dass Sie dasselbe fühlen würden, Sie sind ja auch Mutter.
Der dritte Brief war wieder zwei Monate später datiert.
Bitte verzeihen Sie, dass ich so oft schreibe. Aber es gibt einige Dinge, die ich gern über Jane wissen würde. Falls ihren Eltern irgendwas passiert. Wenn sie umgebracht werden oder sterben und die kleine Jane überlebt, müsste sie doch nicht in ein Heim, wenn ich noch lebe, oder? Bitte schreiben Sie mir, ich kann nachts nicht mehr schlafen und weine mich in den Schlaf, weil ich mir alles Mögliche ausdenke. Wenn irgendwas passiert und sie ohne Eltern dasteht, würden Sie mir doch schreiben, oder? Ich würde sterben, wenn sie irgendwann in ein Waisenhaus gesteckt würde. Ich würde überall nach ihr suchen. Sie schreiben so wenig, wenn Sie meine Briefe beantworten. Ich will nicht wissen, wo sie wohnt, ich will nur wissen, ob ihre neuen Eltern arme Menschen sind. Wenn ich glauben müsste, dass sie nicht so geliebt wird, wie sie es verdient hat, dann würde ich mich umbringen, so große Sorgen mache ich mir um sie. Vielleicht ist sie bei armen Menschen und darf nie an die Sonne. Bitte schreiben Sie mir alles über sie, denn gestern ist sie ein Jahr alt geworden, und es hat mir das Herz gebrochen, als ich an sie gedacht habe und mir vorgestellt habe, wie sie wohl Geburtstag feiert.
Ich faltete den Brief zusammen und schloss die Augen. Dann presste ich die Hand vor den Mund und krümmte mich zusammen. Das Rauschen in meinen Ohren wurde so laut und dröhnend,
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