Meine Schwiegermutter ist cooler als deine
Restaurants in der Altstadt, spricht ausgezeichnet
Deutsch, sieht gut aus, hat eine noch besser aussehende Frau und drei prächtig geratene Kinder im Teenageralter. Und doch
ist man davon überzeugt, dass der Mann Unglück bringt. Wer mit ihm spricht, der fasst sich hinterher dezent in die Hosentasche,
um an seinem Schlüsselbund zu reiben (Metall hilft gegen Unglück). Andere berühren im Vorbeigehen nonchalant einen Laternenpfahl.
Wenn er irgendwo Lotto spielt oder auch nur die Zeitung kauft, ist der Laden auf Monate hinaus tabu. Er heißt überall nur
L’Innominabile
, der Unaussprechliche, denn allein schon das Erwähnen seines Namens bringt angeblich Pech.
Fast jeder Gradeser, den ich kenne, hat eine Geschichte über den Unaussprechlichen parat. Mal fällt einem kurz nach der Begegnung
mit ihm das Handy so unglücklich aus der Hand, dass es auf Nimmerwiedersehen im Hafenbecken landet, mal kommt die Steuerfahndung,
mal bricht man sich am Tag drauf ein Bein. Klar, dass hier die selektive |98| Wahrnehmung voll zuschlägt, denn Grado ist ja so klein, dass praktisch jeder jeden täglich sieht.
Das Erstaunliche ist, dass der Unaussprechliche selbst ja, siehe oben, keineswegs vom Unglück gezeichnet ist, und deswegen
hat dieses ganze Getue etwas Possenhaftes, ist eher komisch als tragisch und sagt mehr über die Menschen aus, die an den Unaussprechlichen
glauben, als über den Unaussprechlichen selbst. Hier verweigere ich mich standhaft jedem Aberglauben und weise auch meine
Frau in die Schranken, wenn es ihr einfällt, nach einem freundlichen
buongiorno
vom Unaussprechlichen den Schlüsselbund zu reiben. Sie schert sich natürlich einen Dreck drum. Meine Frau ist ja ein höchst
abergläubisches Wesen, und weil Grado voller schwarzer Katzen ist, die einem dauernd über den Weg laufen, muss ich mittlerweile
immer einen Schritt vorausgehen, »um das Schicksalsband zu durchtrennen«. Schwarze Katzen und Unglücksbringer, so ein Unsinn.
Die Frage, die ich mir seit Jahren stelle, lautet: Weiß der Unaussprechliche, dass er der Unaussprechliche ist? Ich recherchiere
die Antwort darauf natürlich äußerst behutsam, und in wichtigen Fragen wie dieser konsultiere ich ohnehin meinen Schwiegervater.
Der mir vermutlich nie verzeihen wird, dass er im gleichen Kapitel wie der Unaussprechliche auftaucht. Jedenfalls sagt Pepe:
»Weißt du, solche Dinge erfahren die Betroffenen immer zuletzt.« Wenn überhaupt.
|99| Drei Charaktere: (3) Der Seher
Was den Seher angeht, so möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass ich nicht an Astrologie, nicht an Feng-Shui und erst
recht nicht an Homöopathie glaube. Nostradamus ist für mich allenfalls ein mittelmäßiger Poet. Doch der Seher aus Grado, der
ist wirklich etwas Besonderes, und er ist bis heute der einzige Mensch, der mich an meinem aus purer Ratio und dicken Eisennägeln
gezimmerten Weltbild einen Augenblick lang hat zweifeln lassen. Als ich ihn kennenlernte, war er Ende 60, ein ganz normaler,
schüchterner Mann mit eher weichem Händedruck. Im alltäglichen Geplauder, wenn man sich auf der Straße sieht, wirkt er immer
ein wenig abwesend. In Grado sagt man über ihn, er gehe deswegen mit gesenktem Kopf, weil er mit einem einzigen Blick in die
Augen jede Krankheit erkennen könne. Als mir das jemand zum ersten Mal sagte, lachte ich laut auf, und ich wünschte, das hätte
ich nicht getan, denn mich starrte eine ganze Bar mit Verachtung an. Es wäre, als hätte ich laut über die Unbefleckte Empfängnis
gelacht.
Bald erfuhr ich, warum. Zwei Geschichten, für die ich |100| meine Hand ins Feuer lege: Mein jüngerer Schwager Luca geht über die Straße und trifft zufällig den Seher. Man begrüßt sich,
wünscht sich einen schönen Tag, und beim Verabschieden murmelt der ältere Herr: »Du hast da was an der Speiseröhre, lass dich
sofort untersuchen.« Luca, Mitte 20 und augenscheinlich kerngesund, glaubt nicht an dieses Zeug, erzählt es aber am Abend
Minnie. Die verfrachtet ihn am nächsten Tag gegen seinen Willen ins Auto und fährt mit ihm ins Krankenhaus nach Monfalcone.
Dort weigert man sich zunächst, Luca ausgiebig zu untersuchen, schließlich fehle ihm nichts. Minnie besteht aber darauf (Sie
kennen sie ja inzwischen), und es stellt sich heraus, dass Luca ein echtes Problem an der Speiseröhre hat, mit dem er fortan
zwei Jahre lang ringen sollte. Seine Gesundheit war in Gefahr gewesen, und nur die rechtzeitige,
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