Meine Schwiegermutter ist cooler als deine
gegründet, und inzwischen turnen schon die Enkel auf dem Hochseil herum. Ja, es ist eine
Welt, die man mögen muss. Ich mag sie nicht, aber wann immer Giorgio, der Zeremonienmeister, und der Rest der hundert Wohnwagen
in der Nähe von Grado kampierten, dann gibt es kein Entkommen, zumal die Kinder schon Wochen vorher regelrecht heiß auf den
Zirkus geredet werden. Also gehen wir am Abend an der Schlange vorbei, weil irgendwo für uns Karten hinterlegt worden sind.
Natürlich Loge, erste Reihe. Was bedeutet, dass einer von uns auf die Bühne geholt wird. Gott sei Dank trifft es immer Leo.
Wenn es mich träfe und ich mich von einem Clown und einem Elefantenrüssel rasieren lassen müsste, würde ich noch am Abend
die Scheidung einreichen, denn diese Zuschauerholaktionen stimmt natürlich Laura vorher mit Giorgio ab.
Dann gibt es noch Stefano, Moiras Sohn und berühmt für seine Tigerdressur. Der Kerl hat schon was mit seinem Glitzerkostüm
und den langen Haaren und dieser absolut angstfreienAusstrahlung. Das kann man nicht spielen. Erst recht nicht vor bösen Raubkatzen,
dabei wurde vor zwei Jahren ein Kollege von Stefano in einem anderen italienischen Zirkus von einem Tiger tödlich angeknabbert.
Auch Siegfried von Siegfried und Roy hatte ja erhebliche Probleme bekommen, und das nach jahrzehntelangem Umgang mit den Tieren.
Kurz: Man muss seinen Job schon sehr lieben, um sich dafür in so akute, so schwer berechenbare Gefahr zu begeben.
Als Moira Orfei in Padua gastierte, ergab es sich, dass |143| wir nach der Spätvorstellung vor den Wohnwagen warteten, weil wir mit Giorgio noch eine Pizza essen wollten. Padua ist Lauras
wie Giorgios Heimatstadt, und nach anderthalb Jahren in der Wohnwagenburg war es ja mal wieder schön, durch echte Straßen
mit echten Häusern links und rechts zu spazieren.Außerdem brauchte Giorgio Trost, denn eine bulgarische Seiltänzerin hatte
ihn gerade verlassen. Jedenfalls kam nicht nur Giorgio mit, sondern gleich der halbe Zirkus. Abgeschminkt und ohne die hautengen
Glitzerkostüme sahen sie alle nicht mehr ganz so seltsam aus, etwa die deutschen Pferdedresseure oder das Paar aus Süditalien
mit ihren Messer- und Armbrusttricks. (Sie lässt sich auf ein Rad spannen, er wirft und schießt mit allerlei todbringendem
Material auf sie.) Wir waren etwa zwanzig Leute und belegten in der Pizzeria eine lange Tafel. Nur die Clowns waren nicht
dabei. Die saßen wahrscheinlich mit Fliege auf Halbmast in ihrem viel zu kleinen Wohnwagen, tranken billigen Scotch und schmiedeten
Mordpläne.
Meine Tischnachbarn waren zwar weltberühmte – oder doch zumindest italienweit hochangesehene – Artisten, aber wegen meines
Deutschseins war schnell ich der Mittelpunkt des Pizzaabends. Vielleicht ja auch, weil ich während der Vorstellung dauernd
so entgeistert geglotzt habe. Denn ich erfuhr, dass viele der Künstler, wenn sie gerade nicht dran sind, durch Schlitze in
den Vorhängen oder andere Gucklöcher die Reaktionen des Publikums beobachten und sehr sensibel darauf reagieren, wenn beispielsweise
in der ersten Reihe ein Typ mit versteinerter Miene sitzt. Dann zischt man sich schon mal böse Kommentare zu. Jedenfalls durfte
ich mir rausnehmen, naive Fragen zu |144| stellen, die mich ja wirklich interessierten. Der deutsche Dressurreiter beispielsweise war mit 14 von daheim getürmt und
von einem Zirkus aufgenommen worden. Ach, so einfach geht das? Gut, dass ich meine Ausreißpläne als Zwölfjähriger nie in die
Tat umgesetzt hatte.
Als die Pizza kam, traute ich mich, nach den Clowns zu fragen. Keine Überraschung: Privat taumeln sie natürlich nicht lustig
rum und reißen Scherze. Sie rasieren sich auch nicht mit einem überdimensionalen Pinsel und mithilfe eines Elefantenrüssels.
Und als Giorgio sein zweites Bier trank (er trinkt sonst keinen Alkohol), da ließ er es raus: Die Sache mit den Clowns versteht
nämlich auch Giorgio nicht. »Die meisten Kinder haben Angst vor den Clowns. Und für die Erwachsenen reicht der Humor nicht.«
Was dazu führt, dass Clownauftritte vom künstlichen Lachen der Eltern begleitet werden, die versuchen, damit ihre völlig verängstigten
Kinder anzustecken. (Lilli hatten wir auch tatsächlich daheimlassen müssen, denn sie hat Angst vor dem Licht, dem Lärm und
den Blitzen aus der Hölle, die jede Show ankündigen.)
Und auch mir wurde mulmig, als ich den Messerwerfer beobachtete, der mit dem Pizzamesser
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