Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
abgelenkt worden (ein Klassiker: immer wird man in den Klassikern kurz abgelenkt), was jeder Gauner sofort erkennt und zum eigenen Vorteil auszunutzen weiß.
Tatsächlich sprang Matrix sofort auf und ging zum Gegenangriff über: In Stierhaltung, die in den Handschellen gefesselten Arme hinter sich herziehend (das Scheuergeräusch von Metall auf Metall, als die Handschellen am Handlauf des Kühlregals entlangschrappten, ging mir durch Mark und Bein).
Ingenieur Romolo Sesti Orfeo schaffte es buchstäblich in letzter Sekunde, herumzufahren und den Kopfstoß seines Gefangenen mit dem linken Arm zu parieren, sonst hätte Matrix ihn mit voller Wucht zwischen Rücken und Flanke erwischt. Der Aufprall war aber heftig genug, dass der Ingenieur Gleichgewicht und Pistole verlor (die kam kaum einen Meter vor der Verkäufer-Schuhspitze zu liegen). Die Alte benutzte mich mittlerweile schamlos als Schutzschild, und ab und zu kam es mir vor, als würde sie hinter mir herumtänzeln, um aus der Deckung besser sehen zu können.
Eine Pirouette um sich selbst drehend, fuchtelte Ingenieur Romolo Sesti Orfeo mit den Händen in der Luft herum und versuchte, am Kühlregal Halt zu finden, was ihm jedoch nicht gelang, so dass er zu Boden ging. Sofort versuchte er, sich nach der Waffe zu strecken, aber Matrix stürzte sich keuchend auf ihn und stieß ihm mit dem Knie so kräftig in den Bauch, dass seinem Peiniger die Luft wegblieb. Ingenieur Romolo Sesti Orfeo biss sich auf die Zähne und kauerte sich mit zusammengekniffenen Augen in Fötushaltung zusammen, als wolle er den Schmerz in der Körpermitte zentrieren und ihn dort ersticken.
Matteo der Wurstwarenverkäufer starrte auf die Pistole auf dem Boden, als hätte er so etwas noch nie in seinem Leben gesehen.
Nachdem Ingenieur Romolo Sesti Orfeo seine Kräfte wieder etwas gesammelt hatte, warf er die Faust aufs Geratewohl hinter sich, in der Hoffnung Matrix zu treffen. Dieser konnte ihm aber problemlos ausweichen und nutzte die neuerliche Destabilisierung, um auf seinen Rücken zu klettern und ihn mit seinen Oberschenkeln in den Klammergriff zu nehmen, damit er nicht an die Waffe kam. Wütend stemmte Ingenieur Romolo Sesti Orfeo die Hände in den Boden, um sich abzudrücken und den Jockey abzuwerfen – jedoch erfolglos: Matrix legte sich mit dem gesamten Gewicht seines Oberkörpers auf den Rücken des überwältigten Ingenieurs. Als Matrix versuchte, ihm ins Ohr zu beißen, sah die Szenerie aus wie die Pantomime einer perversen Kopulation (das muss man sich mal bildlich vorstellen: ein am Gebrauch seiner Arme gehinderter Gefangener hockt rittlings auf dem Mann, der ihm die Handschellen angelegt hat).
Wir drei Zuschauer standen hilflos herum und waren jeder mit sich selbst beschäftigt: Matteo der Wurstwarenverkäufer fixierte die Pistole immer noch wie einen Fremdkörper, der seine psychomotorische Software infiziert und lahmgelegt hatte. Ich verspürte den Impuls, den Ingenieur zu verteidigen; die Unkenntnis seiner Motive hielt mich letztlich aber doch zurück. Nur in die Alte war Bewegung gekommen: Sie hatte sich aus der Deckung meines Rückens vorgewagt, verfolgte den Kampf auf den Fernsehbildschirmen statt live mit (ein Umstand, der mich später zum Nachdenken darüber brachte, wie Bildschirme in unseren Augen die Realität zu beglaubigen scheinen) und schrie: »Polizei! Um Himmels willen, ruft die Polizei!«
Inzwischen waren zwei Kassiererinnen eingetroffen, eine tollpatschiger als die andere (sie packten sich gegenseitig am Arm und stammelten ›Jesus-Maria-und-Josef‹, statt den Arsch hochzukriegen und die 113 anzurufen, bevor noch mehr passiert.
Am anderen Ende des Korridors sah ich undeutlich zwei oder drei Kunden auftauchen (darunter wahrscheinlich auch der ›Franco‹ von vorhin), die sich jetzt zum Ort des Geschehens wandten und in gebührendem Abstand genauso unentschlossen und erschrocken wie wir die verkeilten, miteinander ringenden Leiber beobachteten (nur dass sie sich den Vorteil zugutehalten konnten, dass sie gerade erst dazugekommen waren und folglich noch nichts unternehmen mussten).
Und dann brach eine erste Panikwelle los: Eine der Kassiererinnen nahm Reißaus in Richtung Ausgang. Eine weitere Kollegin rannte ihr hinterher, und zu meiner unsäglichen Erleichterung tat es ihnen die Alte nach.
Ingenieur Romolo Sesti Orfeo schützte seine Ohren mit den Händen, weil Matrix über seinem Kopf immer noch bedrohlich knurrte und sabberte wie ein tollwütiger Hund,
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