Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
können wir sogar noch einen Schritt weiter gehen und abstrahieren: Meiner Meinung nach sind alle wirklich schönen Bücher um des Schreibens willen geschrieben, ohne Hintergedanken und Taktieren. (Nehmt nur mal den Fänger im Roggen. Es ist eines der uneigennützigsten Bücher, die ich jemals gelesen habe. Deshalb verkauft es sich immer noch so gut. Glaube ich zumindest.)
Hoppla, wie bin ich jetzt bloß hier gelandet? Ah, richtig, die Sache mit dem Neid auf Menschen wie meine Schwiegermutter, die von einer vereinfachten Sicht auf das Leben profitieren (ganz im Gegensatz zu uns Grüblern, die wir es uns durchs Grübeln vergiften und dann das Schreiben als Mittel brauchen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen).
Wollt ihr also wissen, warum ich schreibe? Wollt ihr ihn wirklich erfahren, den wahren, den um jedes Geschwätz bereinigten Grund?
Gut, ich sage ihn euch: um Zeit zu gewinnen für die richtige Antwort.
Mein Problem ist, dass es mir an Schlagfertigkeit mangelt. (Deshalb verabscheue ich meine Gedanken ja auch so sehr. Wenn sie mir, statt sich gleich zur nächsten Assoziation weiterzuhangeln, einfach eine knappe Einschätzung der Situation liefern würden, könnte ich im passenden Moment die richtige Antwort – vor allem auch zum richtigen Thema – geben). Die Antwort, die ich hätte geben sollen, kommt mir immer auf dem Nachhauseweg. Oder sogar erst am Ende – wenn ich den Schlüssel ins Schloss meiner Haustür stecke. Dann steht sie mir plötzlich vor Augen, die perfekte Antwort. Ich sehe sie förmlich vor mir: einen kompakten, gehaltvollen, musikalischen Satz von unbestechlicher Logik, der jeglichen Versuch eines Widerspruchs ausbremsen würde. In dem Augenblick könnte ich mir dann regelmäßig in den Arsch beißen. Denn ich kann meinen Gegner im dialektischen Schlagabtausch ja wohl schlecht im Nachklapp anrufen und irgendwas in der Richtung stottern wie: ›Hör mal, in Bezug auf unsere Diskussion möchte ich noch anfügen, dass …‹.
Das ist lächerlich.
Das geht gar nicht.
Weil der Geistesblitz nicht mehr gilt. Ausradieren, nochmal auf was Gesagtes Zurückkommen, Alles-nochmal-Überdenken und Korrigieren ist einfach nicht drin.
Deshalb schreibe ich.
Um mich bei den Wörtern zu revanchieren.
Um zu erzählen, wie es gelaufen wäre, wenn ich die richtigen gefunden hätte.
* (Quelle: File Grüb.doc von Vincenzo Malinconico, versteckt im Ordner ›F otos/Happy Village/Mari na di Camerota/Juli 2004‹)
Action!
»Na endlich«, lag mir auf der Zunge, als der Wurstverkäufer – ein Fettsack mit Polizistenkinnbart und Babyface (kennt ihr diese Typen, die als Erwachsene immer noch so aussehen wie als kleine Jungs?) – mit zerknittertem Kittel und seinem weißen Käppi in der Hand bei uns auftauchte wie zu einem Kondolenzbesuch.
»Was geht hier eigentlich vor?« Er klang eher niedergeschlagen als besorgt, weil er die Situation schneller überblickte, als ich sie erklären konnte.
Matrix guckte schräg zu ihm herüber, aber Ingenieur Romolo Sesti Orfeo trat sofort dazwischen, und zwar so, dass er den Gefangenen überwachen und zugleich auf das Erscheinen des neuen Zeugen reagieren konnte. Er fixierte den Verkäufer wortlos, den Arm schlaff an der Seite und in der Hand die Pistole.
Instinktiv wollte der Wurstwarenhändler mit seinem Kleinkindergesicht auf ihn zugehen (aber keineswegs um ihn zu entwaffnen oder irgendwie abzuschrecken): Er setzte sich einfach vertrauensvoll in Bewegung, als wollte er ihm helfen.
»Herr Doktor«, sagte er leise.
Und schockiert, so als wollte er seine Meinung über ihn keinesfalls ändern.
Ingenieur Romolo Sesti Orfeo ließ den Arm in die Höhe schnellen und zielte mit der Pistole auf das Vollmondgesicht.
»Halt, Matteo. Komm bloß nicht näher«, sagte er. Ganz ruhig, ohne jeglichen drohenden Unterton.
Matteo, der Wurstwarenverkäufer, blieb ruckartig stehen, wurde weiß wie sein Käppi und wich einen Schritt zurück.
Die Alte hob wie ein Boxer in Verteidigungshaltung die Arme in die Höhe. Ich hätte sie am liebsten angefahren: ›Jetzt mach mal halblang, Oma. Er hat auf ihn gezielt, nicht auf dich.‹
»Sei so gut«, fügte Ingenieur Romolo Sesti Orfeo in entschuldigendem Tonfall hinzu, »und bleib, wo du bist.«
Hier zeigte sich, dass er ein sentimentaler Typ war – denn wenn er sich nicht verpflichtet gefühlt hätte, Matteo dem Wurstwarenverkäufer mitzuteilen, wie leid es ihm tat, dass er sich ihm gegenüber so benehmen musste, wäre er nicht kurz
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