Meine Seele weiß von dir
nicht tun! Geh einfach auf ihn zu und sag ihm, was du für ihn empfindest.“
Ich schnaube. „Als wenn ich das nicht schon getan hätte!“ Wieder erzähle ich. Es wird ein langer Abend. Ute kocht Spaghetti und wärmt die Tomatensoße auf.
Wir essen, plaudern und trinken viel zu viel.
Irgendwann erwähnt Ute, dass Jenni, Leanders erste Frau, Selbstmord begangen hat. „Sie litt seit ihrer Pubertät immer wieder an schwersten Depressionen und war mit kurzen Unterbrechungen in Behandlung deswegen. Sie hat starke Antidepressiva einnehmen müssen. Das hast du mir selbst erzählt und auch, was in ihrem Abschiedsbrief stand.“
„Was stand darin?“
Sie runzelt die Stirn, während sie versucht, meine Worte möglichst genau wiederzugeben: „Dass es in ihrem Leben keine hellen Töne mehr gab. Kein Licht, keine Sonne, keine Farben. Nur Grautöne. Und von Tag zu Tag wurde das Grau dunkler. Bis sie nur noch im dunkelsten Schwarz lebte. Sie verzweifelte an all der Sinnlosigkeit, die sie in ihrem Leben sah. Nichts machte sie glücklich, nichts konnte sie positiv sehen. Sie schrieb, dass sie es nicht länger ertragen könnte und es keinen anderen Ausweg für sie gibt. Sie bat Leander um Verzeihung und darum, ihr Zuhause nicht an Fremde zu geben. Es war der einzige Ort, an dem sie sich wenigstens eine Zeitlang wohlgefühlt hatte. Leander tat ihr diesen letzten Gefallen – und du hattest zu Anfang ein Riesenproblem damit, im Haus seiner verstorbenen Frau zu leben.“
Das hatte Lisa auch gesagt.
Lautlosigkeit breitet sich im Raum aus. Einige Zeit ist es so still, dass man nur unser Ein- und Ausatmen hört. Dann frage ich: „Habe ich dir auch erzählt, wie sie es gemacht hat? Ich meine, was hat Jennifer sich angetan?“
Ute leert ihr Glas, bevor sie antwortet. „Sie ist ertrunken. Bei ihrem letzten Urlaub mit Leander. Es war an der Nordseeküste. Jenni ist allein bei Ebbe ins Watt gegangen und nicht zurückgekommen. Die Flut hat ihren Körper an Land gespült. Sie hatte ihren Abschiedsbrief an Leander in einen Umschlag gesteckt und an der Hotelrezeption hinterlassen.“
„Wie entsetzlich“, flüstere ich.
Plötzlich wird die Haustür aufgeschlossen. Tom, der als Krankenpfleger Spätdienst hatte, kommt herein. „Meine Güte!“, platzt er heraus. „Sina-Mareen! Das ist aber nett, dass du mal wieder vorbeischaust!“
Er meint es so, wie er es sagt, stapft auf mich zu und umarmt mich und ich bitte auch ihn, mich nicht länger Sina-Mareen zu nennen. Ich erkläre ihnen, aus welchem Grund. Sie scheinen zu verstehen. Jedenfalls diskutieren sie nicht darüber.
Tom schnappt sich die restlichen Nudeln und ein Glas und setzt sich zu uns. Das Geplauder geht weiter. Wir schauen uns die Hochzeitsfotos von Dänemark an, von denen ich mir eines für mein Kaminsims aussuchen darf.
Einmal, als ich zur Toilette muss, scheint der Boden unter meinen Füßen zu schwanken. Ich taumele und plumpse zurück auf die Couch.
„Ich glaube, ich bin betrunken“, verkünde ich mit schwerer Zunge. „Es ist wohl besser, ihr ruft mir ein Taxi.“
Ute kichert angesäuselt. „Nee“, sagt sie mit undeutlicher Stimme. „Du übernachtest hier.“
„Okay.“ Ich wehre mich nicht lange gegen den Vorschlag und wanke erst in Richtung Toilette , danach ins Bad . Als ich zurückkomme, haben Ute und Tom mir ein Schlaflager auf der ausziehbaren Couch bereitet und sich bereits in ihr Schlafzimmer zurückgezogen.
Ich fahre aus meinen Kleidern und in das Nachthemd, das dort für mich bereitliegt. Dann lege ich mich hin und ziehe die Decke über mich.
Ich schmiege meinen Kopf in das Kissen. Das Sofa scheint zu schaukeln. Ich stöhne leise. Mein letzter Gedanke, bevor ich in einen tiefen, berauschten Schlaf falle, ist, dass ich froh bin, nicht in der überwältigenden Einsamkeit meines leeren Hauses zu sein, nicht in meinem Schrank.
Kapitel 26
Der nächste Morgen ist grauenvoll.
Ich erwache mit Kopfschmerzen und einem widerlichen Geschmack im Mund. Meine Zunge fühlt sich an, als wäre sie mit ranzigem Moos überzogen. Das Zimmer scheint sich zu drehen. Nicht so sehr wie gestern Nacht, aber es reicht, dass mir speiübel davon wird. Ich muss mich beeilen, damit ich das Badezimmer rechtzeitig erreiche, wo ich mich heftig in die Toilette erbreche.
Danach ist wenigstens der Brechreiz verschwunden. Dafür droht mir nach der Anstrengung der Schädel zu zerspringen. Ich stöhne, halte ihn mit beiden Händen fest und warte, bis das Schlimmste
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