Meine Seele weiß von dir
mich in die Klinik fahren, das würde vermutlich schneller gehen, als auf den Rettungsdienst zu warten. Trotz der frühen Stunde nahm Rick bereits beim zweiten Läuten ab. „Ja? Hohwacht.“
„Hendrik“, schluchzte ich. „Hendrik!“
„Sina-Mareen? Bist du das?“
„Es tut schrecklich weh!“ Ich weinte heftiger. „Leander ist schon weg ... und ich blute. Da ist so viel Blut.“
Und dann war Rick da. Er holte ein Handtuch und stopfte es sanft zwischen meine Beine. Danach wickelte er mich in eine Decke, hob mich hoch und trug mich zum Auto.
Meine Arme lagen um seinen Hals, mein Kopf ruhte an seiner Schulter. Ich spürte, wie seine Muskeln sich bewegten und er sah Leander so ähnlich, dass ich mir einbilden konnte, er wäre tatsächlich hier. Zusammen mit mir raste er durch das Morgengrauen, direkt in die Klinik.
Schwestern. Laute Rufe. Ärzte.
Ultraschall .
Auf dem Bild war von Krümel nichts mehr zu sehen.
Gar nichts.
Noch in der gleichen Stunde kam ich in den OP. Die Blutungen ließen nicht nach. Die Ärzte hatten Angst, ich könnte ihnen unter den Händen wegsterben – was mir in diesem Moment völlig gleichgültig war.
Nach der Ausschabung brauchte ich eine Transfusion. Rick, der Blutspender ist und wusste , dass er dieselbe seltene Blutgruppe hat wie ich, AB Rhesus negativ, versuchte mich ein bisschen aufzuheitern, indem er mutmaßte, dass es womöglich sein Blut wäre, das gerade in meine Adern geleitet wurde.
Später, als ich in einem unruhigen Dämmerschlaf lag, saß er noch immer an meinem Bett. Jedes Mal wenn ich aufschreckte, drückte er meine Hand. Und jedes Mal narrte mich für Sekunden meine Wahrnehmung, sodass ich mir einbildete, mein Mann säße dort. Bis die betäubende Wirkung der Medikamente allmählich nachließ und Rick mich fragte: „Soll ich Leander benachrichtigen?“
„Nein“, lehnte ich matt ab. „Nein. Das muss ich selbst tun.“
Er nahm das Telefon, das auf meinem Nachttisch stand, und reichte es mir. Danach verabschiedete er sich und verließ das Zimmer. Erleichtert, wie es mir schien.
„Hendrik“, rief ich, bevor er die Tür hinter sich zuzog.
Er drehte sich noch einmal zu mir um. „Hm?“
„Es wäre mir lieb, wenn du keinem ... vorerst ... “ Ich war nicht in der Lage, den Satz zu vollenden.
„Ich verstehe. Natürlich nicht.“
„Danke.“
„Schon gut.“
Behutsam schloss er die Tür.
Ich war allein.
Von allen verlassen.
Es tut mir leid, Krümel, dachte ich. Es tut mir so leid, dass ich dir nicht helfen konnte!
Ich legte die Hände auf meinen Unterleib. Auf die entsetzliche Leere darin, die vorher von diesem wunderbaren Flattern wie durch Schmetterlingsflügel ausgefüllt gewesen war. Flüchtig zwar, aber zart und schön, einer sachten Berührung gleich. Eben wie von einem Schmetterling, der, kaum dass er sich niedergelassen hat, schon wieder davonfliegt.
Vielleicht nennt man Kinder, die man durch Früh- oder Totgeburt und auch durch den plötzlichen Kindstod verliert, genau deswegen Schmetterlingskinder.
Wohin diese Schmetterlingskinder sich davonmachen – wer vermochte das schon zu sagen ? Aber sicher gingen sie nicht einfach so verloren und waren um uns.
Ich schloss die Lider und starrte auf die tiefe Finsternis vor mir, die so unendlich war wie der Kosmos. Vor meinen Augen bewegte sich die Dunkelheit. Und verschlang mich.
Obwohl mir die letzten Stunden wie eine endlose Zeitspanne vorkamen, war es tatsächlich erst halb neun. Leander würde wohl gerade beim Frühstück sitzen.
Ich wählte die Nummer der Auskunft, ließ mich mit dem Hotel verbinden, in dem Leander abgestiegen war, und bat dann die Dame an der Rezeption, mich zu seinem Zimmer durchzustellen.
Ich wartete. Aufgewühlt und traurig. Warum unser Kind ?, fragte ich mich. Warum? Ich fühlte mich grausam leer und … ausgenommen. Wie sollte ich das Leander beibringen? Würde ich die Kraft haben, es auszusprechen, zu sagen: „Unser Krümel ist tot“?
„Hohwacht.“ Leanders Stimme war wie ein Stich ins Herz.
„Hallo, Leander.“
„Sina-Mareen!“ Ich konnte sein Lächeln hören. „Guten Morgen, Mutter von Krümel. Na? Wie geht‘s dir?“
Meine Augen brannten, als hätte jemand eine ätzende Flüssigkeit hineingetropft. Ich wollte ihm nicht diese furchtbare Nachricht sagen, ihm nicht wehtun. Zum ersten Mal in unserer Beziehung hatte ich den Wunsch, ihn zu belügen.
„Nicht gut“, quälte ich endlich mit weinerlicher Stimme
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