Meine Seele weiß von dir
hervor. „ Ehrlich gesagt, i ch wünschte, du wärest hier. Das wäre einfacher.“
Leander verbarg seine Ungeduld nicht. „Fängst du schon wieder an? Du bist bloß schwanger, Sina-Mareen – nicht schwer krank! Bitte, reiß dich zusammen.“
„Leander, ich ...“, weinte ich.
„Wenigstens ein bisschen“, redete er ungerührt weiter. „Hör zu, ich bin auf dem Sprung und spät dran. Ich rufe dich später zurück, okay? Mach‘s gut.“
Ich habe keine Ahnung , wie lange ich mit dem Hörer in der Hand dasaß, das Ohr an die Muschel gedrückt. Es können Minuten oder auch Stunden gewesen sein.
Ich konnte mein Herz kaum spüren. Es fühlte sich an, als wäre es gar nicht meines, sondern ein Spenderorgan, das kalt und fremd in meiner Brust lag und seine Tätigkeit nur notdürftig verrichtete. Die Welt um mich herum war schwarz.
*
Leander hat seine Hand nicht weggenommen. Unsere Finger ineinander verschlungen sitzen wir da, jeder auf seiner Seite des Schrankes. Die Tür ist bis auf diesen Spalt zugezogen. Leander weint. Lautlos, mit zuckenden Schultern, so viel kann ich erkennen.
Das erschüttert mich.
Seine Tränen fallen auf unsere Hände. Sie laufen heiß zwischen unseren Fingern hindurch und scheinen sie miteinander zu verschweißen.
„Warum nur?“, stellt Leander sich die gleiche Frage wie ich. „Warum unser Krümel?“
Ich erkenne, dass es ihm ins Herz schneidet, diesen Kosenamen auszusprechen. Genau wie mir, als ich ihn höre. Auch mir kommen die Tränen. Ich lasse ihnen freien Lauf. Wir trauern gemeinsam um unser Kind und um das, was wir zusammen hätten sein können.
„ Kannst du verstehen“ , flüstert seine Stimme zu mir herein, „was es bedeutet zu sagen: ‚Ich würde alles tun, um es ungeschehen zu machen‘, und es auch wirklich zu meinen?“
„O ja. Das kann ich .“
„Und dann diese Gewissheit zu haben, dass man nichts rückgängig machen kann, sein Lebtag nicht, völlig egal, was man tut?“
„Ja. Auch das.“
Ohne dass ich bemerkt habe, wie es geschehen ist, hat sich die Tür zwischen uns ganz geöffnet. Meine Stirn ruht an Leanders Schulter. Er streichelt zart die empfindsame Haut in meinem Nacken.
„Na los“, raunt er. „Erzähl mir auch den Rest. Ich will alles wissen . Ausnahmslos.“
Kapitel 33
Am übernächsten Morgen, einem Mittwoch, durfte ich bereits nach Hause. Rick, den ich gebeten hatte, mich abzuholen, brachte mich heim.
Im Schlafzimmer legte ich mich angezogen auf das Bett. Ich konnte hören, wie er unten mit Frau Hischer sprach, und ich dachte, dass dies eigentlich Leanders Aufgabe gewesen wäre. Einmal noch kam Rick zu mir herein, um sich von mir zu verabschieden, und ich schmiegte mich tief in seine Arme.
Etwa eine Stunde nachdem er mich verlassen hatte, rief Leander aus Berlin an. Zu spät!
Ich war nicht mehr bereit, mit ihm über meinen Verlust zu sprechen. Das alles ging ihn nichts an.
Ich wollte nur eines: dass er blutete. Genau wie ich. Und als er sagte: „Endlich erwische ich dich! Ich habe mir schon Sorgen gemacht!“, schnappte ich rabiat: „Weshalb?“
„Weshalb? Weil ich seit zwei Tagen versuche, dich ans Telefon zu kriegen. Wo bist du nur gewesen?“
Die tiefe Erleichterung in seiner Stimme brachte mich förmlich zum Sieden. Kurzerhand schnitt ich ihm das Wort ab. „Im Krankenhaus. Und hör mir genau zu: Jetzt gibt es nichts mehr, worüber du dich sorgen müsstest.“ Dabei betonte ich das Wort „sorgen“ besonders.
Es blieb still am anderen Ende der Leitung.
Völlig still.
Dann: „Was willst du damit sagen?“
Ich zwang mich zu lachen. „Was willst du damit sagen, was willst du damit sagen?“, äffte ich ihn nach. „Ganz einfach: Ich hatte das Gefühl, du wärst noch nicht bereit dazu, Vater zu werden. Deshalb habe abgetrieben.
Ich habe mir ein Medikament verschreiben lassen: Mifegyne. Man schluckt es und kann in einem so frühen Stadium der Schwangerschaft eine Abtreibung zu Hause erledigen. Ganz bequem und ohne Krankenhausaufenthalt. Normalerweise. Doktor Bornfeld hatte mich zwar gewarnt, dass ich Krämpfe und starke Blutungen bekommen werde. Aber dass es so schlimm wird, dass ich in der Klinik lande, damit habe ich allerdings nicht gerechnet. Egal! Jetzt ist jedenfalls alles okay!“
In Wahrheit hatte ich lediglich vor einiger Zeit in Doktor Bornfelds Wartezimmer in einer Illustrierten einen Bericht über Mifegyne gelesen. Über ein sechzehnjähriges Mädchen.
Sie hatte es eingenommen und
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