Meine Seele weiß von dir
Sonne steht tief. Nicht mehr lange, und sie wird untergehen.
Erst jetzt gönnt Leander mir einen Blick, wendet den Kopf in meine Richtung und krächzt verbissen: „Lass es uns zu Ende bringen, Sina.“
Ich beiße mir auf die Lippen, starte aber den Erzählmodus, als würde ich einem Fremden aus irgendeiner Biografie vorlesen.
Kapitel 36
Morgendämmerung.
Der Tag danach.
In der winzigen Mansarde über der Garage. Jenni, Leanders erste Frau, hatte sie früher vermietet, damit es nicht so einsam hier draußen war. Sie hoffte, dass der regelmäßige Umgang mit Menschen sie auf andere Gedanken bringen, ihre Depressionen in Schach halten würde – was leider eine Fehleinschätzung gewesen war.
Jetzt brachten Leander und ich hier manchmal Übernachtungsgäste unter, wenn wir mehrere hatten und deshalb das Gästezimmer im Haus nicht ausreichte, das über kurz oder lang sowieso zum Kinderzimmer hätte umfunktioniert werden sollen.
Hierher war ich mit Hendrik gegangen, raus aus unserem Haus.
Auf dem Rücken liegend starrte ich an die makellos weiße Decke. Ich fühlte mich ganz und gar nicht wohl in meinem Körper. Es kam mir vor, als würde er nicht mir gehören. Oder als wäre ich missbraucht worden. Ich ekelte mich vor mir selbst.
Von der anderen Seite des Bettes legte sich ein Arm schwer über meinen Bauch.
Als unerträglich empfand ich diese Berührung, doch als ich ihn wegstoßen wollte und mein Gesicht Hendrik zuwandte, schien mir Leander aus den Kissen entgegenzublicken.
Ein braunäugiger Leander zwar, aber ein Leander. Mit einem schmerzlichen Zug um die Lippen. Ein reumütiger, ein leicht verletzbarer Leander. Und er sagte schlicht: „Es tut mir leid.“
Er stand auf: glatte Haut, kräftige Glieder, gut gebaut. Diese Ähnlichkeit! Beinahe wie ein Ei dem anderem glichen sie sich. Sie hätten Brüder sein können. Sogar Zwillinge, wie ihre Väter.
Schweigend sammelte er seine Kleidungsstücke ein, zog sich an und stand mit gebeugten Schultern und gesenktem Kopf vor mir. Der Zauber der letzten Nacht - er war verweht.
„Es tut mir leid“, wiederholte er, aber der Tonfall und das Verlangen in seinen Augen straften seine Worte Lügen.
Ich setzte mich auf und wickelte mich in die Bettdecke. „Schon gut“, sagte ich. „Du warst es ja nicht allein. Vermutlich ist es ein bisschen viel verlangt … aber lass uns einfach so tun, als wäre nichts geschehen.“
„Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“
„Wenn wir uns anstrengen, wird es gehen. Verlass dich drauf!“
„ Na gut“, stimmte er ohne echte Überzeugung zu. „Ich werde es versuchen.“ Er blinzelte wehmütig.
Ich konnte mich nicht gegen die traurige Anziehungskraft, die von ihm ausging, wehren. Ich empfand ein schier unermessliches Verlangen, zu trösten und getröstet zu werden. Ich floss über davon.
Rick überlegte eine Weile, ehe er sich zu mir herunterbeugte und mich zum Abschied auf die Wange küsste.
Warum nur, fragte ich mich, empfinde ich das als angenehm und will nicht, dass er aufhört?
Zu jener Zeit ahnte ich natürlich noch nichts von seiner Chimäre, seinem Engel, seiner fixen Idee. Und noch viel weniger erkannte ich, dass ich es ihm nachtat und meine eigene Chimäre erschaffen hatte: einen neuen, alten Leander.
Der Mann, der er für mich vor seiner zeitraubenden Arbeit in Berlin gewesen war, vor meiner Schwangerschaft, vor der Fehlgeburt. Der Mann, dem ich nicht die Schuld am Tod unseres Babys gab, den ich uneingeschränkt liebte - da stand er vor mir, verändert zwar, aber nah. Ich brauchte nur nach ihm zu greifen.
I c h streckte die rechte Hand aus und strich mit den Fingern sanft über sein Haar .
Als ich zum zweiten Mal an diesem Tag erwachte, war ich allein.
Rick hatte die Kammer verlassen - aber etwas für mich zurückgelassen. Neben mir lag ein Blatt Zeichenpapier mit dem Bild des nackten, schlafenden Engels in einem zerwühlten Bett.
Ich fühlte mich eigenartig, als ich es betrachtete.
Vielleicht, weil ich glaubte, dass ich zwar auf eine irgendwie ungesunde und selbstsüchtige Weise in Rick vernarrt war – ihn aber nicht liebte. Und ich erkannte, dass ich ihn niemals lieben würde.
Nie.
Aber mir war klar : Er würde wiederkommen. Da s schien mir sicher, obwohl alles so unwillkürlich geschehen war und keinerlei Tiefe besaß. Ich fühlte mich dem Schicksal auf eine Art und Weise ausgeliefert, die mir wie ein böser Scherz vorkam.
Der einzige schwache Trost war mir, dass wir uns diesen
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