Meine Trauer geht - und du bleibst
Achtung anzuerkennen.
Der wichtigste Grund, die Trauer zu halten, der auch in diesem Beispiel anklingt, ist die Verpflichtung gegenüber dem Verstorbenen. Viele Trauernde erleben es als Verrat am geliebten Verstorbenen, wenn sie die Trauer loslassen. Wenn der Verstorbene zu früh oder schwer leidend sterben musste – wie kann es da mir wieder gut gehen oder wie kann ich mich gar wieder am Leben erfreuen? Diese Loyalität bindet die Hinterbliebenen an den Verstorbenen und umgekehrt hält der Hinterbliebene mit der Trauer auch weiterhin die Treue zum Verstorbenen. Die festgehaltene Trauer ist so Zeichen der Treue und der Liebe zum Verstorbenen.
Der Trauerschmerz hat auch den Sinn, immer wieder an den Verstorbenen zu erinnern, und stellt somit immer wieder die innere Verbindung zum Verstorbenen her. Trauernde haben dann beim Loslassen der Trauer die Angst, die Verbindung zum Verstorbenen zu verlieren. So wird die Trauer zu einem Faust- und Unterpfand, das ich nicht loslassen kann, will ich den geliebten Menschen nicht verlieren. Wir werden an späterer Stelle genauer sehen, wie wir diese Fragen in eine gute Lösung überführen können.
Nicht selten tritt die Trauer an die Stelle des Verstorbenen. Das Leben mit dem geliebten Menschen ist nicht mehr möglich, und nun kann die Trauer durchaus zu einer Stellvertreterin für den Verstorbenen und das Leben mit ihm werden. Die Trauer wird dann zu einer eigenen Person, die mich begleitet und paradoxerweise auch tröstet. Wenn ich dann die Trauer loslassen würde, bliebe eine Leere zurück, die ich nicht mehr – auch aus der eben beschriebenen Loyalität zum Verstorbenen – mit eigenem, neuem Leben füllen kann oder darf. Diese Einsicht, dass meine Trauer zum Ersatz werden kann, ist schwer auszuhalten, und manche sehen darin etwas Unerlaubtes oder Peinliches. Doch dafür braucht sich niemand zu schämen. Bei einem schweren Verlust greift unsere Seele nach jeder Möglichkeit, den Verlust auszugleichen, und sei es mit der Trauer selbst. Dies entwickelt sich meist auch ganz unmerklich und unbewusst, so dass Trauernde erst den Anstoß von außen brauchen, um dies zu bemerken.
Und schließlich gibt es noch zahlreiche sehr individuelle Gründe, auf der Trauer zu beharren. Sie haben meist wieder mit dem eigenen Lebensskript zu tun. Wenn ich mich durch den Tod beispielsweise bestraft fühle, könnte ich den unbewussten Gedanken hegen, dass ich noch nicht genügend bestraft bin und noch nicht lange genug gebüßt habe. Wenn mir mein Lebensskript sagt, dass ich an allem, was mir zustößt, schuldig bin, dann hält auch mein überdauerndes Schuldgefühl meine Trauer fest und umgekehrt sagt mir meine Traurigkeit, dass ich doch selbst den Tod meines geliebten Menschen mitverschuldet habe. Wenn ich den Skriptsatz in mir trage, dass es mir nicht gut gehen darf, dann erfüllt sich dieser Skriptsatz in der festgehaltenen Trauer. Diese Trauer wird dann zu einer lähmenden, alles überschattenden Traurigkeit, mit der es mir nicht gut gehen kann. Auch hier zeigt sich wieder, wie wichtig es ist, sich nach dem Tod eines geliebten Menschen mit dem eigenen Lebensskript auseinanderzusetzen und die destruktiven Skriptsätze zu verändern.
Nicht in der Trauer, sondern in der Liebe bleibe ich mit dir verbunden
Ich möchte noch einmal betonen, dass wir uns als Trauernde das Festhalten an der Trauer nicht vorwerfen sollten. Wir sollten wohl aber verstehen, welcher Sinn dieses Beharren auf der Trauer hat. Die Schlüsselfrage für dieses Verstehen heißt: »Wozu brauche ich die Trauer noch?« Und wenn ich dabei gute Gründe für ein Festhalten finde, dann erlaube ich mir, meine Trauer weiterhin in meiner Seele zu beherbergen. Ich muss sie nun nicht mehr klammernd festhalten, sondern kann sie freundlich bitten, noch länger zu bleiben. Mit der Bitte gebe ich meiner Trauer zugleich die Freiheit, selbst zu entscheiden, wann sie gehen will. Und wenn sie sich allmählich zurückzieht, dann ist es auch an der Zeit, sie gehen zu lassen, um dann nicht tatsächlich in eine destruktive, depressive Entwicklung zu geraten.
Wir haben im letzten Abschnitt gesehen, welche Gründe es für das Festhalten der Trauer gibt. Nun gilt es, das dahinterliegende Bedürfnis zu erspüren. Das wesentliche Bedürfnis ist es, in einerliebenden Beziehung zum Verstorbenen zu bleiben. Zunächst ist es die Trauer, die den Verstorbenen findet, und anfangs ist die Trauer eine Form der Liebe. Auf Dauer aber ist es die Liebe selbst , die
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