Meine Trauer geht - und du bleibst
Lebendigkeit und in ihrer Rückkehr zum Leben blockiert sind.
In der üblichen Trauerliteratur wird dieses Problem unter der Überschrift »Pathologische Trauer« diskutiert. Ich halte diesen Begriff für falsch. Für mich ist die Trauer nicht pathologisch, weil sie immer eine konstruktive und beziehungstiftende Aufgabe hat. Die Trauer ist zwar ein schmerzliches, aber nie ein pathologisches, sondern letztlich immer ein heilsames Gefühl. Manchmal aber halten wir die Trauer auch dann noch fest, wenn sie ihre heilsame Arbeit in unserer Seele schon getan hat. Dies kann dann durchaus pathologische, sprich »krankhafte« Züge in sich tragen. Mit »pathologisch« meine ich, dass mich dann die Trauer an meinem eigenen Leben hindert und die innere Beziehung zum Verstorbenen nicht wirklich nahe und frei ist.
Was sind nun Zeichen dafür, dass wir die Trauer über Gebühr festhalten? Für manche Menschen bleiben die Trauer und der Verlust über lange Zeit – über mehr als drei oder vier Jahre – das Hauptthema und Grundgefühl ihres Lebens. Andere Gefühle wie eine kleine Freude oder auch eine »Pause« von der Trauer sind dann nicht möglich. Oft sind konstruktive, dem Leben dienende Fähigkeiten – wie auf andere Menschen zuzugehen oder etwas Neues anzupacken – sehr eingeschränkt oder fast gänzlich verloren gegangen. Dies hat dann schon depressive Züge, die man wissenschaftlich – und das ist dann der bessere Begriff als der der pathologischen Trauer – als »reaktive Depression« bezeichnet. Diese Form der Depression ist eine Reaktion auf einen Verlust, die über die eigentliche Trauer hinausgeht. Aus dem Vermissen des geliebten Menschen wird dann eine unendlich scheinende Leere, aus der Trauerschwere wird eine massive, alles umfassende Lähmung, aus dem Verlassenwerden entsteht eine Einsamkeit und ein Isoliertsein – kurz: aus der Trauer entwickelt sich ein eigener depressiver Zustand, der nicht mehr Trauer genannt werden kann. Hier ist dringend eine psychotherapeutische, nicht selten auch eine medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva anzuraten.
Da das Festhalten an der Trauer meist unbewusst geschieht, halten manche Trauernde ihre Trauer körperlich fest. Die Trauer ist dannscheinbar weitgehend verschwunden, zeigt sich aber in Form von Migräne, Rückenschmerzen oder Atem- und Herzbeschwerden. Wenn wir seit unserem Verlust länger an solchen Symptomen leiden, sollten wir in Erwägung ziehen, dass diese Beschwerden eine Form des Festhaltens an der Trauer sind.
Manchmal halten Trauernde auch an Gegenständen, die dem Verstorbenen gehören, sehr lange fest. Sie können auch nach fünf oder sechs Jahren nicht den Kleiderschrank oder das Zimmer des Verstorbenen ausräumen oder verändern. Das muss nicht ein Zeichen eines Festhaltens sein, zumal wir bestimmte Erinnerungsstücke wie Fotos oder ganz besonders wichtige Gegenstände für immer behalten werden. Es gibt also keinen Zwang, die Dinge des Verstorbenen wegzugeben. Mit der Zeit werden wir eine Auswahl treffen: Manche Gegenstände können wir dann leichten Herzens weggeben, manche werden wir als wertvolle Erinnerung behalten wollen. Wenn Trauernden diese Auswahl nicht gelingt oder das Festhalten an den Gegenständen damit einhergeht, dass Trauernde auch sonst in ihrem Leben kaum oder nichts mehr verändern, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass sie im Festhalten der Trauer erstarrt sind.
Wozu ich meine Trauer festhalten muss
Es gibt viele Gründe, die Trauer festzuhalten. Darin liegt zunächst nichts Pathologisches oder Verwerfliches. Im Gegenteil: Unsere Seele hat ihre wichtigen und guten Gründe, die Trauer sehr lange oder sehr intensiv zu bewahren. Mit fortschreitender Zeit sollten wir als Trauernde uns dann aber auf die Frage einlassen, welchen psychologischen Sinn dieses Beharren auf der Trauer hat. Wenn ich verstehe, warum ich die Trauer noch brauche, dann kann ich mich auch bewusster entscheiden, ob ich die Trauer noch eine gewisse Zeit behalten will und muss.
Es gibt Situationen, in denen auch die Entscheidung für eine dauerhafte Trauer angemessen ist. Eine 86-jährige Frau sagte mir ein Jahr nach dem Tod ihres Ehemannes: »Warum soll ich aufhören zu trauern, wie die Leute immer wieder sagen. Die Trauer um meinen Mann, das ist jetzt mein Leben und meine Aufgabe,bis ich dann zum ihm gehe.« Diese bewusste Entscheidung für eine lebenslange Trauer mit den entsprechenden Konsequenzen gilt es in Fällen wie diesen zu respektieren und mit
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