Meine Trauer geht - und du bleibst
zu befreien. Wenn wir dabei unsere Trauer nicht ganz von uns schieben, wird sie bereit sein, sich auf unseren Wunsch nach trauerfreien Zeiten einzulassen. Sie bleibt wichtig und stark genug, sich im Auftrag ihrer Arbeit zu melden und sich wieder einzubringen. Der Trauernde spürt mit der Fähigkeit, seine Trauer aktiv beiseitestellen zu können, auch die Kraft des Lebens in sich. Diese Kraft signalisiert die Rückkehr der Lebendigkeit im Trauernden und bahnt den Weg, selbst wieder ins Leben zu gehen.
Meine Trauer verändert sich in meinem Inneren und in meinem Äußeren
Wenn Trauernde ihre Trauer nicht festhalten, verändert sich die Trauer ganz eigenständig. Je mehr sie ihre Arbeit in der Verlustsituation getan hat, desto mehr nimmt sie sich zurück. Anfangs geschieht das zeitweise, dann verlängern sich die Phasen, in denen die Trauer in den Hintergrund tritt. Unsere Aufmerksamkeit wendet sich immer öfter alltäglichen Pflichten und Dingen zu. Andere Gefühle wie Beruhigung, Zufriedenheit oder kleine Erfolgs- oder Freudeerlebnisse tauchen ganz zwanglos auf und werden häufiger. Das Zurücktreten der Trauer zeigt sich häufig auch in kleinen, für den Trauernden meist unbemerkt bleibenden Handlungen. Er lächelt und lacht vielleicht wieder, er erzählt ohne Trauer vom Verstorbenen, die Kleidung wird heller oder der Trauernde vergisst, regelmäßig zum Friedhof zu gehen.
Um besser und eindeutiger die Wandlung der Trauer zu spüren, hilft ein Blick auf den Verlauf der Trauer seit dem Tod des geliebten Menschen. Das ist einfach, wenn ich ein Tagebuch geführt oder mir andere Notizen gemacht habe. Wenn ich mich an die ersten Tage der Trauer, dann an die Trauer nach drei Monaten, nach einem halben und dann nach einem ganzen Jahr erinnere und die Erinnerungen nebeneinanderhalte, werde ich sehr große Unterscheide bemerken, die mir in meinem aktuellen Erleben nicht bewusst sind. Wir gewöhnen uns an den jeweiligen Gefühlszustand sehr schnell und schieben die schlimmsten Trauererfahrungen aus der Anfangszeit weg. Der vergleichende Blick zurück zeigt uns aber, wie sehr sich unsere Trauer und wir uns als Trauernde gewandelt haben.
Mir wird das immer wieder klar, wenn ich an den ersten Urlaub ein halbes Jahr nach dem Tod unseres Sohnes denke. Dieser Urlaub war entsetzlich traurig, ich stand neben mir und konnte weder die andalusische Küche schmecken noch die Landschaft wirklich sehen. Allein der Gedanke an diesen Urlaub lässt mich den Schmerz und die Trauer des ersten Trauerjahres wieder spüren. Und ich weiß dann spontan, dass ich in diese Gefühlslage nicht mehr zurückkehren will. Ganz ähnlich geht es mir, wenn ich an den ersten Geburtstag meines Sohnes nach seinem Tod oder an seinen ersten Todestag denke. Natürlich sind diese Tage auch heute noch schlimm, abermeine Trauer ist ein andere. Sie geht nicht mehr so tief und sie überschwemmt meine Person nicht mehr. Die lähmende Schwere und die erdrückende Enge der Trauer sind abgeflossen. Ich kann wieder leichter atmen, der Druck um mein Herz hat sich gelöst, mein Blick ist wieder weiter und offener. Die Veränderung der Trauer erlaubt es mir, bewusst und aktiv mit ihr umzugehen. Ich kann sie zulassen, sie aber auch wegstellen. Entscheidend hier ist – und das wird in der Trauerpsychologie nirgends beschrieben –, dass sich nicht nur meine Trauer , sondern auch meine Beziehung zu ihr verändert. Sie wird mir ein Gegenüber, das ich inzwischen schon sehr gut kenne. Ich kenne ihre Besonderheiten und kann mich darauf einstellen. Ich weiß, wann sie wieder vermehrt kommt und wann sie zeitweise geht. Ich weiß, wenn sie mich wieder ganz heftig packt und im Griff hat, und weiß, wie ich umgekehrt auch sie – wenigstens ein Stück weit – steuern kann. Ich entwickle eine bewusste Beziehung zu meiner Trauer, in der ich ihr manchmal freundschaftlich, manchmal ärgerlich und abwehrend verbunden bin.
Im Gehen der Trauer kann die Liebe zu dir leicht und heiter werden
So wichtig die Trauer in ihrer Arbeit ist, so sehr wirft sie doch auch einen Schatten auf unser Leben und auf die Liebe zum Verstorbenen. Dies ist die unvermeidliche »Nebenwirkung« der Trauer. Gegen Ende des Trauerprozesses werden die belastenden Nebenwirkungen im Vergleich zum Gewinn, den die Trauer erbringt, größer. Das ist der richtige Zeitpunkt, die Trauer gehen zu lassen und zu schauen, was unter dem Schatten der Trauer entstanden ist. Wenn sich der Schatten der Trauer lichtet oder die Eisschicht
Weitere Kostenlose Bücher